trailer: Herr Wulf, was hat die Phrase „Früher war alles besser" mit Nostalgie zu tun?
Tim Wulf: Ich würde gerne die Aussage „Früher war alles besser“ ein wenig von Nostalgie entkoppeln. Psychologisch gesehen handelt es sich bei Nostalgie um eine sogenannte Mixed Emotion, eine gemischte Emotion, das bedeutet, dass sie sowohl positive affektive als auch negative affektive Bestandteile hat. Die Forschung hat insgesamt gezeigt, dass unterm Strich die positiven Bestandteile überwiegen. Nostalgie verspüren wir dann, wenn wir uns an schöne und bedeutsame Erlebnisse aus unserer Vergangenheit erinnern, oder durch äußere Einflüsse daran erinnert werden: Das können Geschmäcker sein, ein Lied oder eine TV-Sendung, die im Hintergrund laufen, oder auch ein Foto, das über dem Kamin steht. Hier hat sich gezeigt, dass Nostalgie insgesamt eine soziale Emotion ist, dass sie unmittelbar mit solchen Erinnerungen und Erlebnissen zusammenhängt, die wir mit anderen Menschen – oder auch anderen Lebewesen, wenn man an Haustiere denkt – gemeinsam erlebt haben. Nostalgie ist eine emotionale Reaktion und das „Früher war alles besser“ eine kognitive Folge daraus. Ob das „verklärend“ ist, müsste man im Einzelfall prüfen, aber in jedem Fall ist es sehr wohlwollend, in dem Bewusstsein, dass die Erinnerung eine sehr wertvolle ist, und das sie so in den meisten Fällen nicht neu erlebt werden kann – etwa weil es eine Situation mit Personen ist, die inzwischen bereits verstorben sind oder weil es ein Erlebnis ist, das man eben nur einmal im Leben hat, wie etwa ein Abschlussball. Es ist eben eine Erinnerung, die in dieser Form nicht noch einmal erlebbar ist.
Gibt es einen Unterschied zwischen persönlicher und gemeinschaftlicher Nostalgie, vielleicht sogar bezogen auf eine Zeit, die man selbst nicht erlebt hat?
Es gibt Forschende, und dazu zähle ich mich auch, die einen Unterschied machen zwischen persönlicher Nostalgie – also solchen Erinnerungen, die ich selbst erlebt habe, zu denen ich einen Bezug habe, weil sie zu meinen Lebzeiten geschehen sind und ich mich dazu positionieren konnte, wollte oder musste – und sogenannter historischer Nostalgie, die sich auf etwas bezieht, das vor meiner Geburt stattgefunden hat. Dieses Etwas kann eine gewisse Faszination auf mich ausüben, etwa weil ich den Lifestyle der 1920er Jahre spannend finde, wie er in einem Buch oder Film beschrieben wird, oder aber auch für eine Technologie, die zu einer Zeit entwickelt wurde, zu der ich nicht gelebt habe, etwa für den Buchdruck. Das finden wir oft im Bereich der Videospiele: Menschen die um 2000 herum geboren wurden, hegen oft eine Faszination für alte, pixelige Videospiele, das würde man dann als historische Nostalgie bezeichnen. Es gibt also diesen Unterschied, aber man muss sagen, dass es noch nicht so viel Literatur zur historischen Nostalgie gibt, die psychologische Forschung hat sich in den letzten 20 Jahren auf die persönliche Nostalgie konzentriert. Der Unterschied zwischen persönlichen und kollektiven Erfahrungen ist dagegen ziemlich gut erforscht, den gibt es. Gerade bei großen politischen Ereignissen, die eine große Gruppe von Menschen betrifft, etwa die Bevölkerung eines Landes oder einer Region, Ereignisse die das kulturelle Gedächtnis und die Identität der Menschen prägen. Darum kann die Erinnerung an diese Ereignisse für diese Gruppen auch eine ganz besondere Bedeutung haben, die ausreicht um dieses Kollektiv etwa für die Zeit dieser Veränderung bzw. des möglichen Umbruchs nostalgisch zu stimmen.
„Den großen Impact von Nostalgie in der politischen Kommunikation sehen wir erst in den letzten Jahren“
Welche Rolle spielt Nostalgie in der Politik?
Für eine historische Betrachtung besteht die Herausforderung darin, dass der Begriff Nostalgie sich mit der Zeit sehr stark gewandelt hat und von verschiedenen Disziplinen auch anders ausgelegt wird. Der Grundstein für die psychologische Nostalgieforschung wurde vor gut 20 Jahren gelegt, von der sogenannten Southampton-Gruppe in UK. Wenn wir etwa zurückschauen ins Mittelalter, wurde unter Nostalgie eher so etwas wie Heimweh verstanden. Von Schweizer Söldnern, die auf Auslandseinsatz waren, heißt es, dass sie Heimweh hatten, wenn sie Kuhglocken gehört haben und das wurde als Nostalgie attribuiert. Erst im 20. Jahrhundert hat der Begriff eine Umdeutung erfahren: Heute würde man es so interpretieren, dass die Söldner Nostalgie empfunden haben, weil sie Heimweh hatten. Die Nostalgie war die psychologische Stütze die ihnen geholfen hat, um irgendwann wieder nach Hause zu kommen. Aber zur eigentlichen Frage: Grundsätzlich nutzen Politiker:innen die Vergangenheit, um ihre eigene Identität und die Identität ihrer Partei daraus abzuleiten. Das kann durch ganz unterschiedliche Emotionen geschehen, nicht nur durch Nostalgie, sondern beispielsweise auch durch Scham, um sich von der Vergangenheit bewusst abzugrenzen. Darüber hinaus gibt es bereits feststehende Begriffe wie „Ostalgie“ als Nostalgie für die DDR. Aber den großen Impact von Nostalgie in der politischen Kommunikation, auch auf demokratische Wahlentscheidungen, sehen wir erst in den letzten Jahren, wenn wir etwa auf das „Make America Great Again“ von Donald Trump schauen, also ein klarer Rückbezug im Sinne von „Früher war alles besser“, wohin wir wieder zurück wollen. Ebenso, wenn wir aufs Vereinigte Königreich schauen, auf die Kommunikation im Vorfeld der Brexit-Entscheidung, in der das UK als ehemalige Seemacht gezeichnet und der Wunsch kommuniziert wurde, diese Seemachtsstellung wiederherzustellen und mehr Einfluss in der internationalen Politik zu haben. In Bezug auf Deutschland haben mein Kollege Manuel Menke und ich 2019 den Wahlkampf in Thüringen wissenschaftlich untersucht, uns die Wahlprogramme und Veranstaltungen angeschaut und dabei herausgefunden, dass vor allem die AfD mit ihrem damaligen Slogan „Vollende die Wende“ ein sehr stark nostalgisches Motiv gespielt hat, indem sie sehr auf die Wiedervereinigung angespielt hat und die Nachteile, die für Thüringen daraus entstanden seien.
„Einsame Menschen denken mehr über die Vergangenheit nach“
Die Vorstellung einer idealen Vergangenheit wird eher im konservativen Spektrum verortet, der Wunsch nach Veränderung im progressiven. Ist es so einfach?
Wir haben einen Algorithmus darauf trainiert, Nostalgie in Texten zu erkennen und haben den auf den Europa-Wahlkampf 2019 angewendet – ähnlich wie in Thüringen haben wir untersucht, bei welchen Parteien nostalgische Inhalte von diesem Algorithmus erkannt werden und in welchen Kontexten diese stehen. In unserer Auswertung hat sich gezeigt, dass nostalgische Rhetorik von allen Parteien angewandt wurde, jedoch vorrangig von eher konservativen Parteien, der CDU/CSU, der AfD, daneben aber auch von der Linken. Der Kontext, in dem nostalgische Rhetorik zum Einsatz kam, war allerdings sehr unterschiedlich: Bei der AfD wurden Flüchtlinge im nostalgischen Kontext diskutiert, bei der SPD war es die Basisrente, bei der Linken waren es soziale Wohnprojekte und bei den Grünen war es das Handwerk, weil früher Dinge nicht direkt weggeworfen sondern repariert wurden. Meiner Einschätzung nach versucht jede Partei ihre Identität aus gewissen Aspekten der Vergangenheit abzuleiten und auch so ein Gefühl von Sicherheit für ihre Wähler:innen weiterzugeben.
„Die gute alte Zeit“ ist nicht wieder herstellbar. Wird das je zum Problem, für diejenigen, die auf Nostalgie setzen?
In den meisten Fällen wird die Feststellung „ich kann nicht nochmal das Weihnachtsfest mit der Familie wie vor 20 Jahren feiern, weil etwa bestimmte Personen, die damals noch mit dabei waren, nicht mehr leben“, für die betreffende Person wohl nicht zum Verhängnis werden. Nostalgie ist ein emotionaler Zustand, der uns über drei psychologische Funktionen dienlich ist: Die selbstorientierende Funktion, die existenzielle Funktion und die soziale Funktion. Im Durchschnitt hilft Nostalgie uns mit diesen drei Funktionen weiter. Das heißt, wenn ich in bestimmten Situationen bin, richten sich meine Gedanken etwas mehr auf die Vergangenheit und ich ziehe Energie aus der Nostalgie. Die Forschung hat gezeigt, dass etwa einsame Menschen mehr über die Vergangenheit nachdenken. Und natürlich, wenn man mehr über die Vergangenheit nachdenkt, fallen einem auch Ereignisse ein, die einen nostalgisch stimmen. Und diese Nostalgie führt dazu, dass man sich weniger einsam fühlt. Zum Beispiel gegen Einsamkeit, wenn wir mit uns hadern oder wenn wir einen Anker suchen: Was uns ausmacht, was unserer Werte sind, das kann uns Nostalgie wieder ins Gedächtnis rufen.
„Die entscheidenden Veränderungen werden bewusst ausgeblendet“
Wie wird Nostalgie im Wahlkampf eingesetzt?
Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Verknüpfung von Nostalgie mit Populismus ein sehr gutes Match. Warum ist das so? Im Populismus gibt es das sogenannte „Heartland“. Vereinfacht kann man sagen, dass dies die Zielvorstellung darstellt, wie alles sein soll, also, wo man hinwill. Dieses Heartland kann durch Nostalgie gefüllt und erfahrbar gemacht werden – „das hatten wir schon mal, so wollen wir es wiederhaben, wenn ihr uns wählt, kämpft ihr dafür, dass alles wieder so wird, wie es mal war“. Bei dieser Rhetorik werden aber die entscheidenden Veränderungen bewusst ausgeblendet, die für eine Rückkehr zu bestimmten Gegebenheiten nötig wären und diese damit effektiv verhindern. Im konservativen Bereich aber sehen wir den Einsatz von Nostalgie auch um Bestehendes zu verteidigen. Wenn zum Beispiel auf eine Veränderung zum Schlechteren hingewiesen wird, zum Beispiel „Früher waren unsere Straßen sicherer“ – das hat Herr Söder gerade erst wieder auf dem CSU-Parteitag in Augsburg postuliert: Die Kriminalität sei gestiegen und alle würden sich unsicher fühlen. Dabei wird aber komplett ausgeblendet, dass nach der Kriminalitätsstatistik Dinge wie Straßenkriminalität, Betrug und schwerer Diebstahl aktuell auf Werten weit unter denen von 2009 liegen. Das heißt, Nostalgie kann dazu führen, dass wir die Faktenlage aus den Augen verlieren und unser subjektives Empfinden in den Vordergrund stellen.
Zahlreiche Krisen überfordern die Gesellschaft zum Teil. Ist Nostalgie hier eher hilfreich oder schädlich?
Dieser Frage müsste man sich ehrlicherweise nicht nur aus psychologischer, sondern auch aus soziologischer Perspektive nähern. Aus psychologischer Perspektive möchte ich sagen, verschafft uns Nostalgie eher eine kleine Atempause. Wir sind vielleicht überfordert, wollen einen kleinen Stopp machen und uns nicht mit der Gegenwart und der Zukunft auseinandersetzen. Nach aktuellem Forschungsstand verschafft uns Nostalgie also eine kleine Pause, eben genau deswegen, um sich wieder mit der Gegenwart auseinandersetzen zu können. Nostalgie hängt auch in positiver Weise mit Optimismus zusammen: Wenn wir nostalgisch sind, können wir besonders positiv auf die Zukunft schauen und mutig die Punkte angehen, um nicht auf der Stelle treten.
Nostalgie wirkt also vor allem positiv?
Nostalgie ist psychologisch gesehen grundsätzlich dazu angelegt, etwas Positives zu bewirken: Sie stärkt uns, wenn wir uns einsam fühlen, uns sinnlos und selbstwertlos fühlen, damit wir uns wieder gesellschaftlich verbunden fühlen und nach vorne schauen können. Sie erinnert uns daran, was die schönen Dinge im Leben sind und dass es sich lohnt, für diese zu kämpfen. Darum ist mein Plädoyer an dieser Stelle nicht, dass wir nicht nostalgisch sein sollten, sondern dass wir uns gerade im politischen Kontext bewusst machen müssen, dass wir durch Nostalgie manchmal leichter zu beeinflussen sind. Dass wir unser subjektives Empfinden manchmal selbst hinterfragen müssen, etwa mit den richtigen Zahlen und Statistiken.
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Was erreicht worden ist
Warum Nostalgie auch in die Zukunft weist – Spezial 01/25
Weihnachtswarnung
Intro – Erinnerte Zukunft
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 1: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Lebendige Denkmäler
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Route Industriekultur als Brücke zwischen Gestern und Heute
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 2: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
Spenden ohne Umweg
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Netzwerk 2. Hand Köln organisiert Sachspenden vor Ort
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 3: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart
Zivilcourage altert nicht
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Verein zur Erforschung der Sozialen Bewegungen im Wuppertal
Unglaublich, aber essbar
Todmorden und die Idee der „essbaren Stadt“ – Europa-Vorbild England
Schlechte Zeiten: Gute Zeiten
Die Macht der Nostalgie – Glosse
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 1: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 2: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 3: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 1: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 2: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 1: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
„Wir müssen mit Fakten arbeiten“
Teil 1: Interview – Meeresbiologin Julia Schnetzer über Klimawandel und Wissensvermittlung
„Tiefseebergbau ohne Regularien wäre ganz schlimm“
Teil 2: Interview – Meeresforscher Pedro Martinez Arbizu über ökologische Risiken des Tiefseebergbaus