trailer: Frau Farronato, wann wird Kaufsucht zum Problem?
Nadine Farronato: Kaufsucht wird dann zum Problem, wenn es für die Person oder ihr Umfeld Konsequenzen hat. Sprich, wenn die Person sich dabei verschuldet, darüber ihre Emotionen reguliert und keine anderen Möglichkeiten mehr sieht, auf ihre Emotionen gesund einzuwirken.
Sie muss vielleicht ihre Mitmenschen über das Ausmaß des Kaufens belügen, macht wichtige Freizeitaktivitäten oder Hobbys nicht mehr oder kommt nicht mehr dazu, Freunde zu treffen. Das Kaufen nimmt einfach vom Umfang her so viel Zeit ein, dass sie alles andere, was ihr sonst eigentlich gut täte, vernachlässigt.
Das Kaufen wird genutzt, um Emotionen zu regulieren?
Ja. Ganz oft ist es so, dass Personen, die eine Sucht entwickeln – das kann eine Substanzsucht sein oder eine substanzungebundene Sucht wie die Kaufsucht – es nie gelernt haben, adäquat gesund mit ihren Emotionen umzugehen. Sie haben irgendwann gemerkt: „Wenn ich Internetrecherche betreibe, wenn ich Produkte aussuche, wenn ich sie in meinen Warenkorb lege oder wenn ich vor Ort in einem Geschäft unterwegs bin, dann geht es mir besser“. Das hat einen Einfluss auf ihr Gefühl. Sie können die negativen Emotionen hier lassen bzw. betäuben und bekommen zusätzlich noch positive Emotionen dazu.
„Negative Emotionen betäuben“
Legt sich bei den Personen gleichsam ein Schalter um und sie können kaum mehr anders?
Das ist oftmals schwierig, weil die Triggerpunkte bei Personen individuell verschieden sind. Darüber werden sie dann so stark getriggert, dass sie ins Craving rutschen, also den Drang für den Zwang verspüren, etwas kaufen zu müssen. Dann übernimmt im Hirn das Lusthirn und der präfrontale Cortex, unsere Steuerungsinstanz, der eigentlich gut abwägen und Entscheidungen treffen kann, wird schier überschwemmt. So muss man sich das vorstellen. Dann hat der präfrontale Cortex keine Macht mehr und so kommt es zu starken Impulsdurchbrüchen und damit zu Kaufhäufungen, die wiederum nicht mehr gesund sind.
Haben Kaufsüchtige auch abstinente Phasen?
Das kommt immer wieder vor. Oftmals gerade dann, wenn sie eine psychisch tolle Phase haben und es ihnen gut geht. Vielleicht ist das bedingt dadurch, dass sie neue Freunde kennengelernt oder einen neuen Job gefunden haben, dass sie in einer neuen Beziehung sind oder ihre Lieblingsjahreszeit, der Sommer, kommt. Dann kann es durchweg passieren, dass sie den Kaufzwang nicht so stark spüren, da sie auch durch andere Aktivitäten positive Emotionen gewinnen und sich dieses Erleben ein bisschen in den Hintergrund drängt.
„Die heutige Zeit erhöht die Suchtwahrscheinlichkeit“
Gibt es Persönlichkeitsmale, die die Betroffenen einen?
Wir gehen heute nicht mehr davon aus, dass es eine Suchtpersönlichkeit gibt. Wir wissen aber: Es gibt prädisponierende Faktoren. Zum einen haben wir eine genetische Veranlagung. Eine Kaufsucht wird zwar nicht direkt übertragen, aber eine Suchtanfälligkeit kann übertragen werden. Hinzu kommt, dass bestimmte Persönlichkeitsfaktoren, wie etwa eine geringe Emotionsregulation oder ein geringes Selbstwertgefühl oder auch andere psychische Erkrankungen, die Entstehung einer Kaufsucht fördern können. Es müssen aber oft auch noch gesellschaftliche Faktoren hinzukommen: Dass man dieses Verhalten vielleicht auch durch Modelllernen gelernt hat: Ging es bspw. Mama oder Papa schlecht, dann haben sie etwas gekauft und nachher ging es ihnen besser. Die heutige Zeit mit in Online-Formaten ständigen Verfügbarkeiten erhöht dazu auch die Suchtwahrscheinlichkeit sowie das Potenzial dafür.
„Viele können sich nicht losreißen“
Wie kann ich mich von problematischem Online-Shopping fernhalten?
Das spricht einen Punkt in der Behandlung an. Einerseits geht es darum zu erkennen, wann man gefährdet ist. Diese Triggerpunkte, also Auslösereize sollte man dann so gut wie möglich vermeiden. Ein wichtiger Punkt in der Behandlung ist es, sich Sperren einzubauen, um eingeschränkt oder gar nicht mehr auf bestimmte Shops draufgehen zu können. Viele können sich nicht ganz davon losreißen. Dann sollten sie sich den Zugang beschränken, also eine halbe Stunde zugestehen. Wichtig ist auch, die Zahlungsmittel einzuschränken. Man kann sich bei bestimmten Anbietern auch für Rechnungen oder Zahlen auf Raten sperren lassen. Das Beste wäre natürlich, Apps ganz zu löschen. Doch das ist für viele enorm schwierig und mit vielen Ängsten verbunden.
„Mit dem Kaufen versuchen sie, Emotionen zu vermeiden“
Welche Ängste wären das?
Da kommen viele Ängste hoch. Sie befürchten, dass ihre Emotionen dann so stark werden, dass sie damit nicht mehr umgehen können. Oder sie haben Angst davor, Panikattacken zu bekommen, sobald sie ihre Gefühle zulassen. Denn mit dem Kaufen versuchen sie, gerade diese Emotionen zu vermeiden, sie also zu deckeln. Sie haben Sorge, dass sie sie übermannen und nicht mehr aushalten können. Der Kontrollverlust ist dabei ganz oft die größte Angst, die diese Personen haben. Gleichzeitig können sie über das Kaufen auch einen gewissen Status erhalten. In diesem Zusammenhang ist die Angst präsent, sie könnten nicht mehr geliebt oder angesehen sein, wenn sie sich diesen Konsum nicht mehr leisten können.
„Von den Basis-Emotionen sind die meisten negativ“
Wie schwierig ist es, sich mit den Emotionen zu konfrontieren?
Das ist vor allem im Kopf, in der Vorstellung schwierig, da diese Menschen bisher noch nie diese korrigierende Erfahrung gemacht haben: „Ich kann diese Emotionen aushalten. Jede Emotion kommt und geht auch wieder“. In ihrer Vorstellung ist es so, dass die Emotion einfach steigt, steigt, steigt, sie irgendwann die Kontrolle verlieren und nichts mehr tun können. Was wir vorschlagen, ist, zu lernen, mit den eigenen Emotionen auf gesündere, adäquatere, funktionale Art und Weise umzugehen. Dazu gehört natürlich auch, hinzuschauen und sie zu akzeptieren. Denn unser Leben besteht daraus. Von den Basis-Emotionen sind die meisten negativ. Sie gehören zum Leben einfach dazu. Über Emotionen zu lernen ist ein wichtiger Lernprozess. Dazu gehört auch ganz viel Psycho-Edukation. Welche Emotionen gibt es? Was ist deren Funktion? Wenn es Emotionen wie Angst etwa nicht gäbe, wären wir heute nicht mehr hier. Denn unsere Vorfahren hätten nicht überlebt. Emotionen haben eine wichtige, überlebensnotwendige Funktion.
„Es zeigt ihnen, dass ihnen andere am Herzen liegen“
Es geht darum, zu lernen, Emotionen positiv zu nutzen?
Genau, im besten Fall. Zumindest versuchen wir soweit zu kommen, dass sich die Angst reduzieren lässt. Die Betroffenen dürfen merken: „Ich darf auch mal traurig sein“, „Ich darf auch mal enttäuscht sein“. Das gibt ihnen auch wichtige Signale. Es zeigt den Personen, dass sie Gefühle haben und ihnen andere am Herzen liegen. Diese Signale können sie für sich nutzen und sich darüber auch wieder lebendig fühlen.
Und spüren, ich nehme am Leben teil …
Genau, absolut.
Welche Konsequenzen drohen, wenn man sich mit dem Problem nicht auseinandersetzt?
Wenn man sich dem Thema nicht widmet, dann wird es über kurz oder lang in Zahlungsrückständen oder Schulden enden. Das tägliche Leben hat dann keine schönen Anreize mehr – das ist die psychologische Phase. Sie jagen den Schnäppchen hinterher. Und der Worst Case wäre wirklich, dass sie zu Hause keine anderen Aktivitäten mehr haben und inzwischen ganz viele Schulden, die natürlich zu Schuld- und Schamgefühlen führen.
„Darüber verstrickt man sich in Lügen“
Kommt es dabei auch zu Heimlichkeiten?
Leider prüfen die Kreditanbieter immer noch nicht so, wie sie es müssten, obwohl sie es schreiben. Dann werden Kredite aufgenommen. Es werden Freunde oder entfernte Bekannte, die nichts von der Kaufsucht wissen, unter irgendeinem Vorwand angeschrieben. Es kann so etwas sein wie „Ich muss dringend ins Ausland“ oder „Ich muss eine besondere Behandlung machen, die die Krankenkasse nicht bezahlt“. Darüber verstrickt man sich in Lügen und ist wirklich in diesem Teufelskreis gefangen. Der Ausweg wäre wirklich eine radikale Ehrlichkeit: Es mit dem Umfeld zu teilen, sonst kommt man da alleine nicht mehr raus.
Früher oder später belastet es Partnerschaft, Freundschaft oder Familie?
Genau. Wir nennen Kaufsucht die stille Sucht, weil sie ganz oft nicht auffällt. Man sieht es den Personen nicht an, aber enge Systeme – ob mit Kindern, Partnern oder Eltern – sind sehr stark davon belastet. Wenn es herauskommt, entwickelt sich eine Co-Abhängigkeit. Sie versuchen, alles Mögliche dafür zu tun, um den Abhängigen, den Kaufsüchtigen zu schützen. So gerät man aber nur noch tiefer hinein und der Kaufsüchtige kann nicht mehr herauskommen.
„Jemand, der über die finanziellen Mittel verfügt, hat diesen Leidensdruck ganz oft nicht“
Was wäre denn ein erster Schritt, etwas gegen die Kaufsucht zu unternehmen?
Ein erster Schritt ist zu erkennen und sich einzugestehen, dass man eine Kaufsucht hat. Dann kann man sich informieren: Es gibt Beratungsstellen, Informationen im Internet. Der nächste Schritt wäre, sich Verwandten zu öffnen oder, wenn es geht, direkt an eine Suchtberatungsstelle zu wenden, um Hilfe zu bekommen. Weil es oft schon so weit fortgeschritten ist, ist die erste Hilfe oftmals, eine externe Lohnverwaltung, damit erst einmal keine weiteren Schulden entstehen.
Was ist mit Menschen, die schlicht über die finanziellen Mittel verfügen, sich nicht zu verschulden? Brauchen sie therapeutische Hilfe?
Das ist eine sehr gute Frage: Nennen wir es wirklich Kaufsucht, weil es noch keine negativen Konsequenzen hat und noch keinen Leidensdruck erzeugt? Wenn kein Leidensdruck bei mir oder beim Gegenüber entsteht, nennen wir es keine psychische Erkrankung. Das ist ganz wichtig. Und jemand, der über die finanziellen Mittel verfügt, hat diesen Leidensdruck ganz oft nicht. Wenn es aber so weit kommt, dass das Geld immer weiter schwindet und irgendwann das Konto doch leer ist, dann haben wir negative Konsequenzen und wahrscheinlich auch den dazugehörigen Leidensdruck. Dann können wir von einer Kaufsucht sprechen.
„Meistens sind es die Angehörigen“
Solange das Konto gefüllt ist, ist das Learning noch nicht da?
Genau, das Learning ist noch nicht da. Es können sich natürlich auch hier bereits negative Konsequenzen ausbilden. Wenn die Person sich bspw. so sehr zurückzieht und die Freizeit nicht mehr auf dieselbe Weise gestaltet wie zuvor, auch, wenn das Konto noch voll ist – dann hätten wir auch schon eine negative Auswirkung. Die Frage ist, ob die betroffene Person sich das dann wirklich schon eingestehen kann, dass sie ein Problem hat. Meistens sind es wirklich die Angehörigen, die dann anklopfen und fragen, was los ist, die die Person lange nicht mehr gesehen haben, weil sie nicht mehr in den Verein kommt oder zu den Abendessen. Dann kommt das Thema auf den Tisch.
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