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Simon Moses Schleimer
Foto: Verena Müller

„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“

19. Dezember 2024

Teil 1: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule

trailer: Herr Schleimer, eilt Eltern mit Migrationshintergrund ein schlechter Ruf voraus? 

Simon Moses Schleimer: Ja, es existiert immer noch ein tendenziell negatives Bild von Eltern mit Migrationsgeschichte. Es existieren negative Zuschreibungen. Beispielsweise gelten viele Eltern mit Migrationsgeschichte als wenig oder vielleicht sogar gar nicht an Schule und Bildung interessiert. Gleichzeitig – das wissen wir aus unterschiedlichen Studien – haben Eltern mit Migrationsgeschichte sehr hohe Bildungsaspirationen. Also, sie haben ein großes Interesse am Bildungserfolg ihrer Kinder, wünschen sich für sie erfolgreiche Bildungswege, messen dadurch Bildung und einem hohen Schulabschluss auch eine große Bedeutung zu und sind oftmals davon überzeugt, dass ihre Kinder sehr gute Leistungen in der Schule erbringen können. Dieses Potenzial wird oftmals nicht gesehen und erst recht nicht ausgeschöpft. 

Woher kommen denn jene Annahmen? 

Es liegt auch daran, dass Migration in Deutschland immer noch als etwas betrachtet wird, was nicht der ‚Normalität‘ entspricht. Als vermeintlich ‚normal‘ gilt hingegen, keine Migrationsgeschichte zu besitzen. In Bezug auf Menschen mit Migrationsgeschichte herrscht zum Beispiel noch immer eine Defizitperspektive. Als wenn sie etwas nicht besitzen, was sie aber unbedingt bräuchten, um hier in Deutschland als gut integriert zu gelten. 

„Wir müssen lernen, Migration als normal zu verstehen“

Wie ließe sich diese Perspektive verändern? 

Wir müssen einen anderen Umgang mit dem großen Thema Migration finden, lernen, Migration als Norm und Normalität in unserer Gesellschaft zu verstehen und auch die Gesellschaft und ihre Institutionen dahingehend verändern. Es ist nicht damit getan zu sagen: Die Personen, die hier herkommen, müssen sich an das anpassen, was hier schon immer so war, sondern es geht vielmehr darum, die Institutionen wie zum Beispiel die Schule so zu verändern und so zu gestalten, dass sie allen Schüler:innen, eben auch Schüler:innen mit Migrationsgeschichte, gerecht werden kann. 

Wie könnte das aussehen?

Erst einmal ist eine Schule in der Migrationsgesellschaft eine Schule für alle Schüler:innen. Je spezifischer wir über die Schüler:innen Bescheid wissen, je mehr wir berücksichtigen – zum Beispiel welchen Aufenthaltsstatus die Kinder und Jugendlichen haben, welches familiäre Umfeld besteht, welche Ressourcen ihre Familien mitbringen, wie der soziale Hintergrund der Kinder und Jugendlichen ist – desto bedarfsgerechter und passgenauer können wir Schule und Unterricht auch gestalten. Alle Schüler:innen rücken so in ihrer Vielfalt in den Fokus: Die Schülerinnen würden also nicht mehr eingeteilt in „mit Migrationsgeschichte“ und „ohne Migrationsgeschichte“, sondern sie würden in ihrer je individuellen Vielfalt und ihren individuellen Lebensrealitäten anerkannt und betrachtet werden.

„Herausfinden, was jede einzelne Person braucht“ 

Können Sie das näher ausführen? 

Es geht darum, Lerngelegenheiten zu gestalten, die passgenau sind. Das heißt, dass wir nicht allen Schüler:innen zur gleichen Zeit am gleichen Ort die gleichen Aufgaben und Materialien zur Verfügung stellen, sondern bedarfsgerecht differenzieren. Dafür ist entscheidend, herausfinden, was jede einzelne Person braucht – z.B. auch durch Diagnoseverfahren – und im Anschluss zu überlegen, wie muss die Lerngelegenheit gestaltet sein, dass das Lernen besonders gut gefördert und unterstützt werden kann. Gleichzeitig kann zum Beispiel sprachsensibler Unterricht durchgängig in allen Fächern durchgeführt werden. Davon profitieren dann all diejenigen, die vielleicht noch Unterstützung benötigen – ganz unabhängig von einer Migrationsgeschichte.

Ist das Label Migrationshintergrund eigentlich hilfreich – hat nicht inzwischen die Mehrheit der jüngeren Menschen eine Migrationsgeschichte?

Hier hilft ein Blick auf aktuelle Zahlen. Innerhalb Europas ist Deutschland das wichtigste Zielland von internationaler Migration. 2021 hat der World Migration Report die Anzahl der Personen, die in Deutschland leben, jedoch nicht in Deutschland geboren wurden, auf knapp 16 Millionen Menschen beziffert. Damit gilt Deutschland laut dem Report als zweitgrößtes Einwanderungsland der Welt, nach den USA auf Platz eins und vor Saudi-Arabien auf Platz drei. In Deutschland haben laut Statistischem Bundesamt 29,7 Prozent der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund, das heißt, sie selbst oder mindestens ein Elternteil sind nicht mit einer deutschen Staatsbürgerschaft geboren. Wenn wir einen Blick auf die Altersgruppen werfen, die für die Bildungseinrichtungen besonders wichtig sind, dann können wir sehen, dass 43 Prozent der Kinder unter fünf Jahren und 42 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 25 Jahren einen Migrationshintergrund besitzen. Je jünger also die Personengruppe ist, die wir in den Blick nehmen, desto höher ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund. Es ist genau richtig, was Sie sagen: In einigen Großstädten hat die Mehrheit der Kinder in der Grundschule bereits eine Migrationsgeschichte und mittelfristig wird die Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland eine Migrationsgeschichte haben. Migrationsbedingte Vielfalt ist also konstitutiver Bestandteil unserer Gesellschaft.

„Migrationsbedingte Vielfalt ist also konstitutiver Bestandteil unserer Gesellschaft“

Müsste man anders kategorisieren? Macht es einen Unterschied, ob jemand hier die Bildungseinrichtungen durchlaufen hat oder gerade erst geflüchtet ist? 

Zunächst ist dazu zu sagen, dass die Kategorie Migrationshintergrund konstruiert ist. Diese Kategorie suggeriert Einheitlichkeit, viele Menschen werden unter dieser Kategorie gefasst. Es werden aber sehr unterschiedliche Menschen unter dieser Kategorie gefasst: Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, mit unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeiten, unterschiedlichen Religionen, Sprachen, Migrationsgründen oder auch unterschiedlichen Aufenthaltsstatus. Es gibt natürlich Überschneidungen: Menschen aus gleichen Ländern, die eine gleiche Sprache sprechen und die aus gleichen Gründen in Deutschland leben. Gleichwohl existieren unterschiedliche Kombinationen dieser Kategorien: Menschen aus dem gleichen Herkunftsland, die aber unterschiedlichen Ethnien angehören, unterschiedliche Sprachen sprechen und auch aus unterschiedlichen Gründen in Deutschland leben. Dazu kommen dann noch viele andere Kategorien, die Menschen, die mit der Kategorie Migrationshintergrund beschrieben werden, auch ausmachen: All diese Menschen haben ein Geschlecht, eine sexuelle Orientierung, körperliche und geistige Fähigkeiten, einen Bildungshintergrund, einen sozialen Hintergrund und, und, und. Die Migrationsgesellschaft ist also sehr komplex und mehrdimensional zu verstehen. Dieser Komplexität wird die Kategorie Migrationshintergrund nicht gerecht. Hinzu kommt, dass die Kategorie Macht hat. Die Kategorie „mit Migrationshintergrund“ wird als Abweichung von einer vermeintlichen Norm gesehen. Menschen „mit Migrationshintergrund“ gelten dann als Andere, Fremde oder Nicht-Zugehörige. Deswegen ist eine Einteilung in „mit“ und „ohne Migrationshintergrund“ an vielen Stellen nicht zielführend und kann zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Benachteiligung führen. Viele Menschen empfinden die Kategorie Migrationshintergrund als stigmatisierend, weil sie oft mit negativen und ausschließenden Konnotationen einhergeht. Also, es geht nicht darum, die Kategorie komplett abzuschaffen, sondern einen reflektierten und kritischen Blick einzunehmen. In Bezug auf Schule würde dies beispielsweise bedeuten, dass genau geschaut wird, ob ein:e Schüler:in Unterstützung benötigt weil diese Person einen „Migrationshintergrund“ besitzt oder ob diese:r Schüler:in Unterstützung benötigt aufgrund der sozialen Herkunft. Dies lässt sich gut am Beispiel großer Leistungsstudien veranschaulichen, zum Beispiel der PISA-Studie. Diese zeigt immer wieder, dass Schüler:innen „mit Migrationshintergrund“ in Deutschland benachteiligt sind und in den Tests schlechter abschneiden als Schüler:innen „ohne Migrationshintergrund“. Doch oft ist nicht der Migrationshintergrund ausschlaggebend für das schlechtere Abschneiden, sondern die soziale Herkunft. Die Kategorie „mit Migrationsgeschichte“ wird hingegen in den Fokus gestellt und dadurch wird suggeriert, dass diese Kategorie über Bildungserfolg und Bildungsmisserfolg bestimmt. Dadurch verfestigt sich im Zweifel die Defizitperspektive auf Schüler:innen mit Migrationsgeschichte und auch Stereotype können nicht abgebaut werden. Eine Abschaffung der Kategorie Migrationshintergrund ist dennoch nicht zielführend, weil wir sie immer dann benötigen, wenn wir auf Ungleichheiten, Diskriminierung und Rassismus hinweisen möchten.

„Safe Space kann marginalisierten Gruppen positive Erfahrungen ermöglichen“

Menschen, die Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt sind, reagieren darauf mitunter mit Wut oder Aggression. Wo brechen sich diese Gefühle Bahn?

Das zeigt sich an unterschiedlichen Orten, auch in Schulen. Dass einerseits mit Wut und Aggression auf Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen reagiert wird, aber es kann andererseits auch sein, dass Schüler:innen sich zurückziehen und ganz still werden und dann nicht mehr ausreichend gesehen werden. Wir wissen aus Studien, dass bekannte und gut zugängliche Melde- oder Beschwerdestellen wichtig sind, um effektiv gegen Rassismus und Diskriminierung vorzugehen. Auch in Schulen sollte es solche Stellen geben, an denen Betroffene Diskriminierung und Rassismus melden und auch über ihre negativen Erfahrungen sprechen können. Beispielsweise dafür sensibilisierte Schulsozialarbeiter:innen können solche Räume eröffnen: Eine Art Safer Space oder Schutzraum, die dann auch dazu beizutragen, marginalisierten Gruppen Partizipation und auch positive Erfahrungen zu ermöglichen. Die Betroffenen können hier offen über Diskriminierung und Rassismus sprechen und Unterstützung und Stärkung des eigenen Wohlbefindens erfahren. Im besten Falle begleiten sie dort Personen, die selbst mit Rassismus Erfahrungen gemacht haben oder damit konfrontiert sind, Wissen über Rassismus haben, aber auch mit Ansätzen von Empowerment vertraut sind. Systematisch diese Räume in Institutionen zu eröffnen und zu implementieren kann helfen, die Wut und Aggression aufzufangen.

Wie können solche Gefühle außerdem kanalisiert werden?

Zunächst ist zu sagen, dass es wichtig ist, deutlich stärker in Antirassismus- und Antidiskriminierungsarbeit zu investieren. Alle sind in der Pflicht, eine Schule zu schaffen, in der sich alle Schüler:innen wohlfühlen. Die Unterstützung von betroffenen Schüler:innen kann auch so aussehen, dass Möglichkeiten gefunden werden, sowohl Gemeinschaft und Partizipation zu erleben als auch möglicherweise vorhandene Wut und Aggression zu kanalisieren. Da gilt es herauszufinden, wo im Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen Möglichkeiten bestehen, an die sie verwiesen werden oder wo sie Kontakte knüpfen können. Wie schafft man es, sie für diese Räume zu begeistern, wenn sie vielleicht selbst gar nicht wissen, dass in ihrem direkten Wohnumfeld ein Sportverein ist, dem sie beitreten könnten? Ich glaube, das ist auch eine wichtige Aufgabe von Schule: Die Vernetzung mit dem lokalen Umfeld und das Einbeziehen von weiteren Partner:innen zur bestmöglichen Unterstützung.

Interview: Nina Hensch

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