trailer: Herr Rücker, warum beschäftigen Sie sich mit Rauschzuständen?
Gernot Rücker: Ich bin vor vielen Jahren vom Veranstalter eines kleinen Festivals mit etwa 4.000 bis 5.000 Besuchern eingeladen worden, für die medizinische Versorgung zu sorgen. Die hatten einen Arzt gebraucht, der mal den Blutdruck misst, ein Pflaster klebt oder guckt, ob etwas geröntgt werden muss und Ähnliches. Mittlerweile hat das Festival an die 90.000 Besucher. Bei diesen Größenordnungen muss man sich natürlich schlau machen, welche Drogen dort konsumiert werden und wie die wirken. Das gehört genauso zur Veranstaltungsmedizin, wie die Vorbereitung auf Verletzungen, mit denen man bei einem Attentat auf eine Menschenmenge rechnen muss. So bin ich also zur Beschäftigung mit dem Thema gekommen und habe mir immer mehr Expertise angeeignet. Da ich an einem Universitätsklinikum arbeite, bin ich eben auch Wissenschaftler. Glücklicherweise gingen die Festivalteilnehmer sehr offen uns gegenüber mit ihrem Konsum um. Das hat uns für unsere Forschung einmalige Bedingungen beschert, die man so nirgendwo anders findet. Unser Forschungsbereich ist dann irgendwie mitgewachsen und so haben wir eine Menge an Wissen zu dem Thema anhäufen können.
Wie definieren Sie Rausch?
Es gibt zum einen substanzgebundene Räusche und nicht substanzgebundene Räusche. Ich würde es als eine Art ungezügelter Ekstase beschreiben. Die nicht substanzgebundenen Räusche – ob sie jetzt durch Rasen auf der Autobahn ausgelöst werden, durch Bungee-Jumping, Glücksspiel oder auch Sex – sind diffus, da es hier schwieriger ist, eine Rauschqualität festzulegen. Substanzgebundene Räusche sind genauer definierbar, denn die kann man praktischerweise in drei Grundrichtungen einteilen, nämlich in Aufputschen, Beruhigung und Halluzination. Dabei haben die verschiedenen Substanzen, die diese Räusche jeweils auslösen, in der Regel keine chemische Verwandtschaft. Wenn wir alle psychoaktiven Substanzen zusammenzählen, die man auf dem Globus so findet, kommt man auf etwa 3.000, da ist dann von Lachgas über K.O.-Tropfen bis Fentanyl alles dabei. Aber wirklich bedeutsam sind nur 10 bis 20 „Leit-Drogen“.
„An der Zivilisation hat Bier einen immensen Anteil“
Der Rausch begleitet die Menschheit seit Beginn der Zivilisation, auch Tiere berauschen sich. Gibt es ein inneres Bedürfnis nach Rausch?
Auch wenn die Theorien in diesem Feld noch nicht so ausgefeilt sind, hat es wohl mit der Evolution von Pflanzen zu tun. Pflanzen haben einen evolutionären Vorteil davon, ihre Früchte schmackhaft zu machen, denn Früchte tragen nicht nur zur Verbreitung der Samen bei – es gibt auch Beobachtungen, dass Samen besser keimen, wenn sie einen Darmtrakt passiert haben. Vor langer Zeit waren die Früchte zwar noch nicht so süß wie heute, aber der enthaltende Zucker hat natürlich auch da schon für Gärung gesorgt. Dann gab es wahrscheinlich beim Menschen eine Mutation, die dafür gesorgt hat, dass die Alkoholdehydrogenase, also das Enzym für den Abbau des Alkohols, besser funktioniert hat – die Träger dieser Mutation konnten also mehr von diesen Früchten essen, ohne beschwipst zu werden. Dadurch hatten sie einen Überlebensvorteil, weil sie trotz des Alkohols Nutzen aus den Vitaminen und Ballaststoffen der Früchte ziehen konnten. Zivilisatorisch ging es wahrscheinlich mit dem Anbau von Getreide los. Nach der Ernte mussten sie es auch lagern. Wo Lagerung stattfindet, gibt es auch Hefepilze, im Prinzip also überall. Wenn gelagertes Getreide feucht wird, fangen diese Hefepilze an zu sprießen und es kommt zur alkoholischen Gärung . So kam Ur-Maische heraus, also ein Zufallsprodukt. Das haben die Menschen damals getrunken – vielleicht weil sie neugierig waren, oder auch aus einer Notlage heraus – und sie haben festgestellt, dass es berauscht. So ging das Ganze los. Das war wahrscheinlich einer der stärksten Co-Faktoren, die die Sesshaftwerdung mitbestimmt haben. An der Zivilisation, wie wir sie heute kennen, hat Bier einen immensen Anteil. Ohne Bier wären etwa die Pyramiden nie gebaut worden, weil es die Arbeiter mit Kalorien und Flüssigkeit in der ägyptischen Hitze versorgt hat. Ähnliches kann man auch bei anderen Substanzen beobachten: die halluzinogene Wirkung von Pilzen ist wahrscheinlich ebenfalls eine Zufallsentdeckung. Da haben Schamanen beispielsweise beobachtet, wie Rentiere gezielt Fliegenpilze zum Fressen unter der Schneedecke gesucht haben, das haben sie dann nachgemacht und gemerkt, dass man damit Rausch- und Trancezustände erzeugen kann.
„Es gibt keine Kultur, die ohne Drogengebrauch auskommt“
Sie befürworten ein Recht auf Rausch. Warum?
Ich stehe dem Rausch als Wissenschaftler durchaus differenziert gegenüber. Die Gesellschaft hat aus vielerlei Gründen festlegt, dass man Alkohol zu sich nehmen darf, um einen Rauschzustand zu erzielen, eindrucksvoll sichtbar beispielsweise auf dem Oktoberfest. Wenn ich nun aber zu dem wissenschaftlich fundierten Schluss komme, dass es andere Drogen gibt, die durchaus ungefährlicher sind als Alkohol – und das sind ziemlich viele, nicht nur hinsichtlich Sucht und Giftigkeit – dann muss eine Demokratie in der Lage sein, diese genauso zuzulassen. Deshalb sage ich ganz deutlich und unmissverständlich, wenn die Gesellschaft den Rausch will, dann muss sie auch konsequent sein und den Arsch in der Hose haben, den Leuten zu erlauben, sich ungefährlicheren Rausch aussuchen zu dürfen. Oder wir verbieten alles, da würde ich auch mitgehen; ich selbst konsumiere überhaupt keine Rauschmittel. Aber konsequent ist nur entweder so oder so. Und da bin ich der Meinung, dass so etwas eine moderne Demokratie hinbekommen kann, denn die wichtigsten Drogen sind sehr gut erforscht. Darum ist es für mich eine ganz klare Sache: Wir haben das Recht auf Rausch und wenn man das Recht auf Rausch hat, hat man auch das Recht, eine weniger giftige Substanz zu konsumieren.
Haben Rauschzustände auch eine gesellschaftliche Bedeutung?
Wir sind durch Gesetze und gesellschaftliche Konventionen so hoch reguliert, dass wir ein Ventil brauchen, allein schon, um unserer biologischen Aufgabe der Arterhaltung nachzukommen. Wir haben so starke Regeln, dass es einen definierten Weg geben muss, aus diesem Korsett auszubrechen und der kann eben chemisch unterstützt beschritten werden. Wir brauchen natürlich diese Regeln, denn sonst gibt es Mord und Totschlag, aber ohne eine kontrollierte Enthemmung, ohne irgendeine eine Form des „Draufseins“ geht es wohl nicht. Es gibt keine Kultur auf der Welt, die komplett ohne Drogengebrauch auskommt. Mit dem Alkohol als unserer Leitdroge aber haben wir nunmal leider eine der gefährlichsten Substanzen erwischt.
„Es ist unbestritten, das Nikotin eine der suchterzeugendsten Substanzen überhaupt ist“
Warum steht ein Verbot von Alkohol gesellschaftlich praktisch überhaupt nicht zur Diskussion?
Man muss fairerweise sagen, dass ein Alkoholverbot schwierig wäre, aus mehreren Gründen: Alkohol ist einfach ein extrem wichtiges Industriegut, ganz unabhängig von seiner Rauschwirkung. Er ist Desinfektions- und Konservierungsmittel. Er hat die Eigenschaft, gleichzeitig wasserlöslich und fettlöslich zu sein – das heißt, er ist einer der besten Stoffe, um Geruchs- und Geschmacksstoffe zu transportieren. Es gibt fast nichts, was dem Alkohol darin gleichkommt, darin ist es die ideale Substanz für die Parfümherstellung etwa – der Alkohol ist flüchtig und verdampft, während ein leichter Ölfilm auf der Haut bleibt und den Duft verströmt. Ähnlich ist es bei Rumkugeln, da ist es der Geschmack, der transportiert wird. Ein kompletter Verzicht auf Alkohol, wie es die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gerade als Ziel genannt hat, kann also nicht zur Diskussion stehen, das ist Unfug.
Das Rauschmittel Alkohol hat mehr Opfer als andere Drogen zu verzeichnen. Können Sie die Dimensionen verdeutlichen?
Unter den reinen Rauschmitteln unbestritten, aber ich würde noch zwischen Rauschmitteln und Drogen allgemein differenzieren, denn wenn man Drogen als Ganzes betrachtet, ist es das Nikotin, das noch mehr Opfer fordert. Es ist mittlerweile unumstritten, dass Nikotin eine der suchterzeugendsten Substanzen überhaupt ist. Die Zahlen sind hier mehr als eindeutig: In der BRD zählt man pro Jahr ca. 120.000 Tote durchs Rauchen. Bei den Rauschmitteln kommen dann 75.000 Tote durch Alkoholkonsum dazu. Zum Vergleich: Durch Heroin und andere Opioide, die tödlichsten der illegalen Drogen, sterben jedes Jahr 1000 Konsumenten, durch Kokain und Crack 600 Menschen, durch Amphetamine etwa 100 und durch Ecstasy 20. Man sieht, da klafft eine gewaltige Lücke zwischen den beiden Leitdrogen und dem Rest. Jetzt könnte man sagen: Es gibt einfach viel mehr Alkoholkonsumenten als Konsumenten illegaler Drogen, deswegen ist klar, dass es auch mehr Opfer gibt – das stimmt natürlich. Aber: In der Gruppe der 15- bis 75-Jährigen gibt es etwa 40 Millionen Alkoholkonsumenten mit 75.000 Toten. Wenn wir aber nun die Konsumenten von allen illegalen Drogen plus Cannabis zusammenzählen, kommen wir auf gut 10 Millionen Konsumenten. Die sind aber ‚nur‘ verantwortlich für rund 2.200 Tote in Deutschland. Selbst wenn im vergangenen Jahr in dieser Gruppe die höchste Zahl von Toten jemals registriert wurde, braucht man kein Mathegenie zu sein, um zu erkennen, was gefährlicher ist. Und unter den Konsumenten von natürlichem Cannabis gab es laut offizieller Statistik genau null Todesfälle.
„Ich kann nicht etwas zum Konsum freigeben, aber den Vertrieb unter Strafe stellen“
Wie beurteilen Sie die Teil-Legalisierung von Cannabis durch die Ampel-Koalition?
Das Konzept, Cannabis zu legalisieren, ist super – die Machart ist mangelhaft. Beim Cannabis haben wir einen Umsatz von 400 bis 500 Tonnen im Jahr. Das sind eine Menge. Bei dieser Größenordnung kann ich nicht sagen, „ihr dürft es zwar nehmen, aber ihr dürft es nirgendwo kaufen“. Das ist das Dümmste, was man machen kann, weil das den Schwarzmarkt erst richtig befeuert. Wir glauben doch nicht allen Ernstes, dass wir in der Lage wären, einen Bedarf von 500 Tonnen durch Kleingartenbetriebe – also die Cannabis-Clubs – zu decken! Das ist völlig absurd, denn die kennen sich nicht wirklich mit industriellem Growing, Farming oder mit Schädlingsbekämpfung aus und auch nicht mit großtechnischer Bewässerung oder Energiewirtschaft. Das ist alles Neuland, das betreten werden muss. Außerdem müssen in Clubs womöglich hunderte Mitglieder harmonisch miteinander auskommen. Das sind Rauschmittel-Konsumenten, einige davon sind auch abhängig. Das ist so, als würden sie einen Dobermann auf eine Metzgerei aufpassen lassen. Da kommt der eine und erntet zu viel, der andere kommt zu spät und hat das Nachsehen und im Nu gehen sie sich an die Wäsche; man kennt das. Die Machart ist einfach unterirdisch schlecht. Ich hätte Anbau und Vertrieb reguliert. Man kann man es in Apotheken vertreiben, die hatten da sowieso schon Interesse daran. Dadurch hätten in den Apotheken 10.000 neue Stellen entstehen können. Mal ganz ehrlich: Würde ich ankündigen, in meiner Gegend einen Betrieb mit 10.000 Mitarbeitern aufbauen zu wollen, stände die ganze Bundesregierung schon ungeduldig mit einem Klappspaten vor meiner Haustür. Wenn es aber um das ideologisch geächtete Cannabis geht, geht jeder in der Politik in Deckung. Die Machart ist einfach, mit Verlaub, besch… – ich kann nicht etwas zum Konsum freigeben, aber den Vertrieb unter Strafe stellen. Schlechter geht es nicht. Und von den verpassten Steuereinnahmen wollen wir erst gar nicht reden.
Welche Effekte beobachten sie seit der Legalisierung?
Was sofort sichtbar war und was viele Probleme gelöst hat: Wir hatten über die Jahre hunderttausende Rechtsverfahren wegen Cannabis-Besitz. Da wurden Karrieren zerstört, weil jemand mal einen Joint geraucht hatte. Wenn es dumm lief, durfte derjenige kein Busfahrer, Anwalt, Pilot mehr werden, durfte keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden. Was soll das? Von den Anwalts- und Verfahrenskosten gar nicht zu reden. Das hat eine Unzahl an Existenzen ruiniert, sogar vernichtet, weil einige ihren Job verloren haben und/oder sie suizidal waren. Das war ein immenser Schaden. Das zumindest gehört damit der Vergangenheit an.
„Es wird gerne ignoriert, dass deutsche Psychiatrien voller Alkoholerkrankter sind“
Kritiker der Legalisierung fürchten einen Anstieg derjenigen, die durch den Konsum eine Psychose entwickeln.
Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Alltags- und Freizeitdroge. Wenn jemand mal am Wochenende einen Joint raucht, Schwamm drüber. Wenn aber jemand eine Alltagsdroge benutzt, die Person jeden Tag braucht, um wieder runterzukommen, dann ist das zunächst eine Art von Selbsttherapie. Es gibt viele gravierende Gründe wie Gewalt in der Familie, Todesfälle, sexuelle Übergriffe, aber auch Stress. Dann entwickelt man bisweilen Unruhezustände, Panikattacken und ähnliche Symptome. Cannabis ist eben ein gutes Beruhigungsmittel – dann raucht man einen Joint und es ist wieder gut. Zunächst. Das Problem ist: Das psychiatrische Krankheitsbild oder die posttraumatische Belastungsstörung werden damit nicht geheilt. Das muss man sich ein wenig so vorstellen wie Psycho-Krebs im Kopf. Wenn der Betroffene also mit Cannabiskonsum dagegen ankämpft, erhöht er bei Fortschreiten der Symptome auch seinen Konsum. Dann kommt er irgendwann mit einem völlig ausufernden Konsum in völliger Eskalation in die Klinik. Dann heißt es: Ja klar, das hat das Cannabis ausgelöst! Aber so war es nicht: Es war genau anders herum. Das Suchtverhalten war die die Folge, nicht die Ursache. Andere werden mit einem Horrortrip eingeliefert und schon heißt es, das ist eine Psychose, aber das ist völlig überzogen. Natürlich gibt es durch Drogen auch akute echte Psychosen, aber das ist eher selten und sie sind sehr gut behandelbar. Was den Anstieg angeht: Jetzt mit der Legalisierung suchen viele Patienten mit vorherigen psychischen Problemen ärztliche oder psychologische Hilfe auf, die sich vorher nicht getraut haben, weil die (rechtlichen) Konsequenzen des Drogenkonsums extrem waren. Der Anstieg kommt nicht, weil aufgrund der Legalisierung mehr Leute mit dem Kiffen angefangen haben, sondern weil diese Leute nun nicht mehr stigmatisiert werden. Das ist ein gewaltiger Unterschied in der Interpretation, von dem, was Ursache und was Wirkung ist. Darum wird dieser Anstieg auch ideologisch missbraucht, das ist völlig klar. Es wird nämlich gern ignoriert, das deutsche Psychiatrien voller Alkoholerkrankter sind.
Eine CDU-geführte Regierung dürfte die Cannabis-Legalisierung nicht einfach akzeptieren. Hat die Legalisierung Bestand? [Das Interview wurde geführt während der Vorbereitung der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD; d. Red.]
Einerseits gilt: Ein Prohibitions-Gesetz, das es schon einmal gab, ist relativ schnell wieder in den Urzustand zurückgeführt und das würde natürlich bedeuten, dass die Regierung recht schnell einen sichtbaren Erfolg vorweisen kann. Diese Gefahr besteht also durchaus. Andererseits: Das Cannabis-Thema ist für die meisten Politiker nicht so wichtig, dass man darüber eine Koalition und damit unter Umständen sogar seinen Job gefährdet. Deswegen könnten sie sagen, wir lassen das Thema erst einmal raus. Bei einem ideologisch sehr aufgeladenen Thema sich gegen wissenschaftliche Erkenntnisse zu stellen, ist immer problematisch, wenn man seine Glaubwürdigkeit behalten will. Und um die ist es allenthalben derzeit ohnehin nicht gut bestellt. Gesellschaftlich sage ich: Die Prohibition wieder einzurichten wäre das Dümmste, was man machen kann. Keine Strafe der Welt hält die Menschen vom Drogenkonsum ab – es gibt Länder, in denen die Todesstrafe auf Drogenkonsum oder -besitz steht, da wird trotzdem konsumiert. Und auch eines wird häufig nicht bedacht: Wer vorher kein Rauschmittel angerührt hat, also auch kein Bier, der rührt auch nach der Legalisierung keins an. Insofern verschiebt sich nur das Konsumverhalten hin zum Ungefährlicheren.
„Es ist immer der einzelne Mensch, der die Droge konsumiert“
Ein radikaler Gegenentwurf zur Prohibition wäre die Legalisierung aller Rauschmittel. Könnte so eine Herangehensweise verantwortungsvoll gestaltet werden?
Ich würde es stufenweise machen: für die Rausch-Hauptrichtungen zwei, drei Substanzen freigeben und versuchen die Bevölkerung ganz langsam, sukzessive an diese zu gewöhnen. Das nennt man Drogenmündigkeit. Man muss mit den Drogen umzugehen lernen, darum würde ich Drogen auswählen, die eher ungiftig sind und damit in der Regel auch minder gefährlich. Bei den Beruhigungsmitteln wäre das Cannabis, auch wenn es ohne Frage Abhängigkeiten gibt, die allerdings deutlich geringer als bei Alkohol sind. Und natürlich haben Drogen generell überhaupt nichts in Kindergehirnen zu suchen, das ist völlig klar. Mein erster Schritt wäre daher, kein Alkohol unter 18 und kein Cannabis unter 21, Punkt. Bei den Aufputschmitteln würde ich MDMA nehmen, weil es einfach hergestellt und dosiert werden kann. Da kann man zum Beispiel genau sagen, was eine Frau von soundsoviel Kilogramm Gewicht für risikoarmen Konsum nehmen kann. Im Übrigen gibt es bei keiner Droge risikofreien Konsum. Das ist auch klar. Bei den Halluzinogenen würde ich LSD nehmen, weil es ziemlich ungefährlich ist, wenn man bestimmte Regeln befolgt und weil es in der Psychotherapie in besonders schweren Fällen gerade sehr gehypt wird. Es ist zwar nicht geeignet, wenn man mal eine depressive Episode hat, aber bei schwersten Depressionen ist es eine echte Option. Diese drei Substanzen würde ich legalisieren und damit Erfahrungen sammeln. Dann wäre man schon einen ganzen Schritt weiter – aber immer in Verbindung mit einem Krieg gegen den Alkohol.
Im gleichen Maß, wie die anderen Substanzen liberalisiert werden, muss beim Alkohol die Schraube angezogen werden. Denn letztlich geht es um die Migration vom hoch schädlichen Alkohol-Lager ins weniger schädliche Cannabis-Lager. Und ganz nebenbei sinkt die Zahl der Aggressionsstraftaten unter Alkohol. Man raucht einen Joint, chillt und schlägt sich nicht bei jedem kleinem Dorffest die Schädel ein. Dann hätte man vielleicht nur noch 30.000 bis 40.000 Tote beim Alkohol, dann wäre schon ein dickes Brett gebohrt. Aber man muss eine Alternative zum Alkohol anbieten, ob wir wollen oder nicht, sonst kommt man vom Alkohol nie weg. Man muss natürlich auch sagen: Es gibt Menschen, die haben schwerste Schicksalsschläge erlebt und wenn die mit Drogen in Berührung kommen, die ihnen Glücksgefühle verschaffen, entwickeln sie eine extreme Affinität zum Konsum. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich dann häufig die Schwerstabhängigen, die in Kriminalität und Prostitution abgleiten, die sich selbst aufgeben. Die Gesellschaft sieht dann nur auf ihren Substanzgebrauch und stempelt sie als willensschwach ab. Ein grundlegender Fehler. Diese Menschen brauchen Therapie. Sie alleine zu lassen bedeutet schlicht ein völliges Versagen der Gesellschaft. Das sind zwar Sonderfälle, aber an ihnen wird die gesamte Drogenpolitik festgemacht. Fakt ist nun einmal, dass die Droge nie schuld ist. Kann sie auch gar nicht. Es ist immer der einzelne Mensch, der die Droge konsumiert. Deswegen muss die erste Frage darauf abzielen, was der Konsumgrund ist. Offenbart sich eine verletzte Seele, wird die Art der konsumierten Droge zur Nebensache.
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