Das könnte eine Millionenfrage im Fernsehquiz sein: In welcher europäischen Stadt befindet sich das Haydn-Institut? Wenn jetzt noch Städtenamen wie Wien oder Eisenstadt und sogar Paris oder London aufgeführt würden, wäre die Wahl Köln wahrscheinlich gleich ausgeschlossen. Aber so abwegige Orte, die offensichtlich rein gar nichts mit einem Komponisten gemeinsam haben, machen sich natürlich verdächtig.
Joseph Haydn diente als Chorknabe am Wiener Stephansdom, bevor er beim Fürstengeschlecht Esterházy über Jahrzehnte als Kapellmeister diente. Das Schloss lag bei Eisenstadt am Neusiedler See. Früh wurden in Paris Haydns Werke beliebt, auch Londons Bürger liebten die unkonventionellen Sinfonien des Wiener Meisters - die populärste „Sinfonie mit dem Paukenschlag“ heißt in England „Surprise“. Nach London ist Haydn zweimal gereist, sonst blieb er lieber daheim. An Köln rollte seine Pferdekutsche vorbei, vielleicht auch durch die Stadttore, übernachtet wurde aber in Bonn – Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Region des Kurfürsten kulturell mehr zu bieten als Köln.
Also zurück zur Rätselfrage. Antwort: natürlich Köln! Köln ist ja zumindest für Kölner fast immer die richtige Antwort bei Fragen aller Art. Die Stadt verdankt den Sitz dieser einzigen Forschungsstätte zu Leben und Werk Haydns dem einstigen Oberstadtdirektor Max Adenauer, der 1954 auf Anfrage gleich eine langfristige Unterstützung dieser Institution versprach und deshalb den Zuschlag erhielt. Seit 1955 wird also in Köln an der monumentalen Gesamtausgabe aller Haydn-Werke gearbeitet, und diese füllen Band und Bände. Der Vielschreiber hat sich in allen Formen, Besetzungen und Genres ausgelebt. So existieren allein knapp 200 Trios für das Baryton, ein heute vergessenes Streichinstrument. Auch von den Opern wollen nur die musikhistorischen Schatzgräber wirklich etwas wissen. Haydn geriet im Laufe der Geschichte unberechtigterweise in die zweite Reihe hinter Mozart und Beethoven. Vielleicht wurde damals nur posthum berühmt, wer zu Lebzeiten kräftig über die Strenge schlug und Stoff für einen Plot bot – bei Haydn keine Spur: ein Langeweiler.
Er war aber zu seiner Zeit unangefochten der erfolgreichste Komponist des Wiener Kreises. Deshalb liegen von manchen der mehr als 100 Sinfonien mehr als einhundert verschiedene Abschriften oder Frühdrucke vor, die alle als Einzelstimmen-Sätze jeweils eine Quelle bedeuten bei der Sichtung vorhandener Vorlagen. Autographe sind die Ausnahme. Das bedeutet für den Herausgeber nicht nur eine „Haydn-Arbeit“, sondern auch eine unglaubliche Fachkompetenz für den letzten Feinschliff. In diesen Tagen ist jetzt nach mehr als fünfzig Jahren kontinuierlicher Arbeit der 100. Band der Gesamtausgabe erschienen.
Dass die Musikforscher noch lange kein Ende ihrer Arbeit sehen, obwohl die Ausgabe auf 114 Bände geplant ist, zeigte ein aktueller Sonderband. Zur „Schöpfung“, dem beliebtesten Oratorium Haydns, existiert eine so große Anzahl an Skizzen, also vorbereitende Schmierzettel als Stoffsammlung, dass die Musikwissenschaftlerin Annette Oppermann anhand dieser ungewöhnlichen Quellen „einen kleinen Blick in die Werkstatt eines großen Meisters“ gewähren konnte. Dieser verdankte seine Meisterschaft – nach eigenem Bekunden – einzig dem Experimentier-Labor auf Schloss Esterháza, das ihm sein Fürst finanzierte. Wie gut, dass es das Haydn-Institut in Köln gibt, das uns diese Meisterwerke erhält. Sonst erlitten wir vielleicht irgendwann einen Kulturinfarkt!
Winzige Ausstellung in der Musikabteilung der Zentralbibliothek in Köln I bis 19.5. I www.haydn-institut.de
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