Das Interesse an Philosophie ist seit den 90er Jahren stetig gewachsen. Damals fungierte Jostein Gaarders Roman „Sofies Welt“ mit seinem märchenhaften Erfolg schon als eine Art Vorbote. Freilich blieb das Bedürfnis nach philosophischen Fragen lange Zeit auf den Bereich für Lebensfragen beschränkt. Mit den fundamentalen geopolitischen Umwälzungen der letzten Jahre rückt die Philosophie wieder in die Rolle eines Welterklärers. „Krisenzeit ist eine gute Zeit für Philosophie“, behautet Wolfgang Erdenberger, einer der Programmentwickler des Festivals, das vor drei Jahren ins Leben gerufen wurde.
Wenigstens einer, der also von der verworrenen Weltlage profitiert, möchte man meinen. „Was tun?“, lautet denn auch die Frage, die sich gleich zu Beginn der diesjährigen phil.cologne stellt. Antworten soll Agnes Heller, Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl von Hannah Arendt in New York, geben, die in Budapest lebt und die politischen Verwerfungen in Osteuropa genau beobachtet. Christopher Clark, britisch-australischer Historiker, der mit den „Schlafwandlern“ ein epochales Werk zur Entstehung des Ersten Weltkriegs schrieb, und Richard David Precht werden die britische und die deutsche Perspektive auf die Krise Europas eröffnen.
Die griechische Wortbedeutung von Krise beschreibt eine Situation, in der falsch zusammengesetzte Strukturen neu geordnet werden. Also ein ziemlich produktiver Ansatz für Erfolge, die die Zukunft bringen könnte. Deshalb wird sich auch der Soziologe Harald Welzer – er firmiert schon als eine Art Stammgast des Festivals – mit Volker Handon über den gefräßigen Kapitalismus unterhalten. Denn Handon ist Wertpapierhändler, hält jedoch die Praxis, Geld mit Geld zu verdienen, für „krank“.
Während die ganze Welt über die Attacken nordafrikanischer Männer auf Frauen in der Silvesternacht diskutiert, fragt der Historiker Jörg Baberowski, ob Gewalt auch weiblich sei? Baberowski geht davon aus, dass sich Gewalt dort entwickelt, wo Menschen für ihre Verbrechen keine Bestrafung fürchten müssen. Die Literaturwissenschaftlerin und Feministin Barbara Vinken, die grundlegende Texte über Mode und Pornographie schrieb, wird ihm antworten, wenn es darum geht, nach spezifischen Formen weiblicher Gewalt zu forschen.
Aktuelle Themen korrespondieren in der Philosophie mit ewigen Phänomenen, so kommt Rüdiger Safranski nach Köln um über die Zeit zu sprechen. Nicht erst in unserer eng vernetzten Epoche spielen Stimmungen im gesellschaftlichen Umfeld eine wichtige und manchmal geradezu beängstigende Rolle. Soziologe Heinz Bude und Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sprechen über die „Macht eines kollektiven Gefühls“, das sich aus einem Like oder Hate einen sozialen Flächenbrand entzündet. Immerhin ist aber auch der Hunger nach kritischem Denken gewachsen, das beweist dieses Festival, dessen Säle oft schon um 18 Uhr bis auf den letzten Platz gefüllt sind.
phil.cologne | 17.-23.5. | WDR Funkhaus; Comedia | www.philcologne.de
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