trailer: Frau Boldt, „Handlungsräume“, „Wege der Kollaboration“ und „Stofflichkeit des Wissens“ lauten die Untertitel der drei Bände der Buchreihe „Radical Proximity“. Wie hat es sich ergeben, in einer so umfangreichen Publikation auf das 20-jährige Bestehen von PACT Zollverein zurückzublicken?
Esther Boldt: Von Anfang an war klar, dass wir keine Rückschau veröffentlichen möchten. Denn bei PACT kamen in den letzten 20 Jahren disziplinübergreifend Menschen aus Bereichen wie Kunst und Wissenschaft zusammen, um herauszufinden, was unsere Gegenwart ausmacht und welche Zukunft wir uns vorstellen können. PACT hat sich immer dadurch ausgezeichnet, diese unterschiedlichen Felder und Disziplinen zusammenzubringen. Darum war es ein zentrales Interesse von dem Künstlerischen Leiter Stefan Hilterhaus und den Mitherausgeberinnen Katharina Burckhardt und Ann-Charlotte Günzel, auch in der Publikation zentrale Impulsgeber:innen zu versammeln und das Netzwerk, das hier über Jahre entstand, sichtbar und lesbar zu machen – und hoffentlich auch die Leser:innen zu inspirieren. Die drei Themen der Bände sind besonders prägend für die Arbeit von PACT.
Inwiefern?
Wir finden uns seit einigen Jahren in einer krisenhaften politischen Situation wieder, in der viele Menschen das Bedürfnis haben, sich zu engagieren. Deswegen bringen wir im ersten Band Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen zusammen, die die titelgebenden „Handlungsräume“ aufzeigen. Im zweiten Band über Kollaboration geht es darum, wie wir zusammenkommen und Energien bündeln können. Während sich der dritte Band einem anderen Schwerpunkt von PACT widmet: der Frage, auf welcher Grundlage Wissen überhaupt zustande kommt und was wir aus diesem machen.
In der Einleitung des ersten Bands ist oft die Rede von PACT als Ort der Transformation. Wie wichtig schätzen Sie es ein, dass mit der künstlerischen Bespielung sowie dem Wissensaustausch in einer einstigen Industriehalle zugleich ein Wandel umgesetzt wurde?
Der Ort selbst erzählt die Geschichte der Deindustrialisierung. Die Transformation lässt sich hier auf vielen Ebenen ablesen: die konkrete Funktion der Waschkaue als Ort der Reinigung und des Übergangs zwischen Alltag und Arbeit, die Transformation von Industriestätte zu einer Kulturinstitution, die auf einen gesellschaftlichen Wandel hinweist. Auch heute soll PACT ein Ort der Transformation sein, ich komme gern hierher, um etwas Neues kennenzulernen, herausgefordert und inspiriert zu werden. Zum Beispiel in der WerkStadt, einem offenen Ort, den PACT in Katernberg etabliert hat und der von der Nachbarschaft den eigenen Bedürfnissen und Ideen entsprechend mitgestaltet und genutzt werden kann.
Sie zitieren im ersten Band Stefan Hilterhaus, der PACT als Begegnungsraum bezeichnet, „an dem ein anderes Wissen zirkuliert“. Wie kann ich mir das vorstellen?
Neben den Bühnenproduktionen finden hier auch viele Projekte statt, die auf Austausch abzielen, beispielsweise unter Studierenden von verschiedenen Kunsthochschulen weltweit. PACT stellt ihnen regelmäßig die gesamte Waschkaue zur Verfügung, damit sie in einem nicht-hierarchischen, offenen Rahmen gemeinsam Projekte entwickeln können. Aus vielen dieser Veranstaltungen sind langfristige Kooperationen entstanden. Das gilt auch für Symposien wie „IMPACT“, wo sich Künstler:innen kennenlernen und vernetzen. Solche Begegnungsräume, wie sie PACT schafft, fehlen oft in unserer Gesellschaft.
Zugleich betonen Sie eine Annäherung der Kunst an andere Kontexte wie Stadtforschung, Ökonomie oder Aktivismus. Inwiefern greift PACT diese anderen Bereiche auf?
Im zweiten Band von „Radical Proximity“ erzählen beispielsweise die Ritualmeisterin Barbara Raes und die Künstlerin Sophie de Somere von einem gemeinsamen Projekt, das sie bei PACT während der Pandemie entwickelt haben. Es bewegt sich zwischen Kunst, Sorgearbeit und Aktivismus. Um Menschen ein Stückweit aus ihrer Isolation herauszuholen, haben sie ihnen Gesprächsangebote gemacht und sich beispielsweise mit einem Schild „Ich höre Dich“ vor einen Supermarkt und auf den Marktplatz in Katernberg gesetzt. Dieses Angebot, einfach zuzuhören, wurde rege angenommen. Es kamen überraschend viele Leute auf Raes und de Somere zu und schütteten ihr Herz aus.
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