Gelsenkirchen, 10. November: Es ist ein ungewöhnlicher Gang zur Filmvorführung: die Tür öffnet sich auf Knopfdruck nach dem Klingeln, man betritt ein wuchtiges betongraues Gebäude. Man schließt seine Sachen ein und wartet, bis man aus dem Besucherraum abgeholt und über das Gelände geführt wird, bis zum improvisierten Kino, hoch oben im Kirchsaal – von hier hat man einen guten Ausblick auf die JVA in Gelsenkirchen. Und auch auf die fröhlich untereinander scherzende Damenrunde, die vom Frauenhaus des Gefängisses zur Filmvorführung gebracht wird, man hört sie bis hier oben laut und fröhlich lachen.
Zu sehen ist „Jackie– Wer braucht schon eine Mutter?“, ein Road-Movie der niederländischen Regisseurin Antoinette Beumer. Für die Insassinnen der JVA Gelsenkrichen ist der Kinoabend samt Filmgespräch eine willkommene Abwechslung, für die Filmemacherin eine aufregende Erfahrung. Sie war gemeinhsam mit Drehbuchautorin Marnie Blok zu Gast, um mit den Insassinnen über den Film zu sprechen.: „Ich hatte erst ein wenig Angst, dass wir ausgebuht werden“, gesteht sie im Nachhinein. Der Film, in dem zwei adoptierte Schwestern ihre vermeintliche biologische Mutter kennen lernen, handele schließlich von Freiheit – ob dass die richtige Wahl für die Damen hinter Gittern ist?
„Jackie“ handelt von zwei Schwestern, adoptiert von einem schwulen Pärchen, in dessen Leben zufällig wieder ihre biologische Mutter tritt: Die gealterte Hippiebraut lebt in den USA, nach einem Unfall muss sie dringend in die Reha. Die ungleichen Zwillinge Sofie und Daan, die eine Workaholic und scheinbar gefühlskalt, die andere liebenswürdig schusselig, macht sich auf die Reise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten – und da sich Mutti „Jackie“ nicht von ihrem geliebten Wohnmobil trennen will, beginnt eine irrwirtzige Fahrt mit der Klapperkiste durch einen immer noch recht wilden Westen.
Für Filmkuratorin und trailer-Mitarbeiterin Betty Schiel war klar: „Es muss dieser Film sein.“ Sie hatte die Idee zu dem Projekt, als sie beim Frauenfilmfestival die Justizvollzugsbeamtin und Filmfreundin Tanja Biemüller kennenlernte. So entstand der Kontakt zur JVA Gelsenkirchen. Und als Betty Schiel Regisseurin Beumer und Drehbuchautorin Marnie Blok für ein Filmgespräch hinter Gittern anfragte, waren die beiden sofort begeistert.
Und natürlich auch gespannt auf das Feedback – von den befürchteten Buh-Rufen war aber nichts zu hören. „Der Film war schön – und es war auch einfach eine tolle Abwechslung“,sagte eine Insassin im Anschluss. Zwar dürften sie sich im Gefängnis DVDs ausleihen – aber einen richtigen Kinoabend samt Popcorn und großer Leinwand, das habe sie seit Jahren nicht mehr genießen können, erzählt die Frau.
Einige Inhaftierte waren auch gerührt von der Familiengeschichte, eine bedankte sich gar bei der Regisseurin: Sie habe viel aus ihrem Leben im Film wiedererkannt. Und, wer hätte das gedacht, unter den delinquenten Damen gab es auch einige begeisterte Cineastinnen. Eine Inhaftierte erkannte direkt die Bezüge zum Road-Movie-Klassiker „Thelma & Louise“ und fachsimpelte mit Drehbuchautorin und Regisseurin darüber. Drehbuchautorin Blok war begeistert: „Sie waren so großartig zu uns.“ Beide Filmemacherinnen würden das Projekt gerne wiederholen.
Für Justizvollzugsbeamtin Biemüller ist klar: „Zur Wiedereingliederung gehören auch Freizeitaktivitäten, wie zum Beispiel diese Filmvorführung“, sagt sie. Das Credo sei: Wie draußen, so drinnen. Zumindest, so gut das möglich ist: Ein Road-Movie zeigt Freiheit in bewegten bunten Bildern, die Wirklichkeit im Gefängnis ist im Vergleich dazu grau. Aber auch wenn die Freiheit für die Gefangenen (noch) nicht gelebt werden kann – sie kann zumindest für diesen einen Abend gespürt werden. Eine große Leistung der beiden Filmemacherinnen, eine große Leistung von Film als solchem.
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