„Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“ Mit dieser Schlagzeile provozierte Florian Kessler 2014 den Literaturbetrieb. Seine These: Der Autor:innennachwuchs rekrutiere sich vornehmlich aus den Abkömmlingen der Großbourgeoisie. Es überraschte keinen. Aber der Tatbestand langweilte vor allem ein Feuilleton, das Schriftsteller:innen besprach, die offensichtlich nichts erlebt und wenig zu erzählen hatten – außer die gleichen Sujets, im gleichen Jargon. Dieser Ennui verflog, als unter anderem Didier Eribons „Rückkehr nach Reim“ eine unerwartete Resonanz im deutschen Feuilleton erfuhr. Plötzlich erschien es wieder en vogue, über die Arbeiter:innenklassen zu schreiben. Kurz darauf erschienen etliche autofiktive Bestseller, die sich um Arbeit und Klassenherkunft drehten. Diese Motive inspirierten zum Teil auch die vier Autor:innen, an die das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund jeweils mit 5.000 Euro dotierte Stipendien vergab.
Die Comiczeichnerin Eva Müller erhielt den Zuschlag etwa für ihre Graphic Novel „Scheiblettenkind“, in der sie die deutsche Nachkriegsgeschichte mit der eigenen Biografie und Familiengeschichte verknüpft. Mit dem Zeichnen ihres aktuellen Werks begann Müller eben nach ihrer Lektüre von „Rückkehr nach Reim“, wie sie verrät: „Als ich Eribon las, hat mich das sehr bewegt. Und wenn mich etwas beschäftigt, dann zeichne ich viel.“ So überrascht es nicht, dass in ihrer Graphic Novel viele Motive auftauchen, die Eribon lancierte – bis hin zu den „feinen Unterschieden“, die die proletarische Herkunft kennzeichnen: Biere- und Zigarettenkonsum oder Kneipenbesuche. Anders als französische Autor:innen, wie etwa Louis, ging es ihr jedoch nicht darum, Verrohungstendenzen innerhalb der Arbeiter:innenklasse zu thematisieren; im Gegenteil, so Müller: „Bei mir war es nicht so brutal. Es hatte vielmehr mit einer Community zu tun, in der man sich gegenseitig half.“
Die Hamburgerin veranschaulicht damit jene proletarische Solidarität, die bekanntlich schon Karl Marx beschwor. Und der hat wiederum einigen Auftritt in „Scheiblettenkind“: Marx, der auf Instagram erscheint oder Marx, der im Jet sitzt. Für Müller war es auch ein politisches Anliegen, diesen Spiritus rector des Kommunismus wie ein Gespenst in ihren Comic zu pfropfen: „Es passt sehr gut in unsere Zeit, weil es immer noch Unterschiede zwischen den Klassen gibt. Ein Klassenkampf wäre auch sinnvoll.“ Einen Aspekt, der Marx weitestgehend entging, beleuchtet dagegen Cecilia Joyce Röski in ihrem Romanprojekt „Poussi“: nämlich die Koinzidenz von Ausbeutung und Patriarchat. Röski erzählt aus der Sicht von zwei Sexarbeiterinnen über ihren Bordellalltag. Obgleich ihr Werk nicht dem autofiktiven Trend folgte, habe „die Auseinandersetzung mit meiner Klassenherkunft bei der Entstehung eine Rolle gespielt“, so Röski.
Das gilt auch für Ilija Matuskos Essay „Verdunstung in der Randzone“, der zwar Bourdieu-Begriffe wie das kulturelle Kapital aufgreift. Und damit auch seinen eigenen Werdegang als „Bildungsaufsteiger“ kritisch beleuchtet. Matusko geht es jedoch konkret um „den Geruch als sozialen Marker, woher man kommt“, wie der Autor erzählt: „Es gibt Gerüche, die darauf hindeuten, dass man ehr aus gehobenen Schichten kommt. Aber es gibt eben auch Arbeitsgerüche wie eben dieses Pommesfett.“ Matusko greift damit seine eigene Biografie auf, denn seine Eltern betrieben einen Imbiss. Das hatte zur Folge, dass sich der Frittiergeruch in der Kleidung festsetzte und seinen Mitschülern diesen einen Satz hervorlockte: „Es riecht nach Pommes, Ilija kommt!“
Gleichwohl wollte er diese Herkunftsmilieu weder abwerten noch romantisieren. Das galt auch für den Begriff des Bildungsaufstiegs, der eben nicht mit einem wirtschaftlichen Aufstieg einhergehe; aber, so Matusko: „Es fällt mir leichter, im Literaturbetrieb einen Platz zu finden. Denn es öffnete sich ein Diskursfenster, um mit diesen Themen umzugehen.“ Damit meint der Essayist die Motive, die eben Eribon und Co. lancierten: „Die Widersprüche und Empfindungen spüren eher Menschen, die diesen Milieuwechsel hinter sich haben.“
Dass es Bildungsaufsteiger mittlerweile einfacher haben, in den Literaturbetrieb zu kommen, verneint dagegen Eva Müller: „Es hat sich gar nicht so viel geändert.“ Eine Einschätzung, die auch Arnold Maxwill vom Fritz Hüser Institut teilt, der die Stipendien initiierte: „Wer das soziale Kapital und den Habitus nicht mitbringt, ist im Literaturbetrieb sicher noch in der Minderheit.“ Gibt es also immer noch einen Durchgang für Ärztesöhne? „Dieser Satz hat immer noch Gültigkeit.“
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