Es gab blutige Nasen, blau geschlagene Augen und einen Komponisten, der über den Orchestergraben hinter die Kulissen und dann gleich durchs Fenster ins Freie flüchtete. 27 Verletzte zählte man am 30. Mai 1913, einen Tag nach der Premiere von „Le Sacre du Printemps“ im Pariser Théâtre des Champs-Elysées. Igor Strawinsky hatte die Musik komponiert und Waslaw Nijinsky die Choreographie entworfen, und der Skandal, den die beiden gezielt in Szene gesetzt hatten, sollte lange nachwirken. Mit ihm wurde vor 100 Jahren ein neues Kapitel der Moderne aufgeschlagen. Das „Frühlingsopfer“ erzählt von einer archaischen Gemeinschaft, in der ein Mensch stellvertretend für die Gruppe geopfert wird. Ein Sujet, das im 20. Jahrhundert auf vielfache Weise zum Sinnbild für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wurde. In drastischer Form findet es sich in den Jagdgesellschaften des Nationalsozialismus, des Stalinismus aber auch in einer Situation, wie wir sie derzeit um den jungen Informatiker Edward Snowden erleben, der gesagt hat, was alle ahnten, und dafür nun um die Welt flüchten muss. Das Phänomen der Opferung wird es wohl so lange geben, wie es Menschen gibt.
Zum Jubiläum zeigte Sascha Waltz in Paris eine Interpretation, die angesichts des expressiven Potenzials der Berliner Choreographin enttäuschend verhalten blieb. Da war Pina Bauschs legendäre Produktion, getanzt auf braunem Torfboden, der letztlich alle Beteiligten wie schmutzige Mörder aussehen lässt, schon von anderem Kaliber. Zu den Tänzerinnen des Wuppertaler Tanztheaters, die damals auf der Bühne agierten, gehörte auch Meryl Tankard, deren Inszenierung „The Oracle“ das Tanzhaus NRW jetzt nach Sichtung in London sofort an den Rhein holte. Im November (14.-17.) wird das Solo – getanzt von Paul White – in Düsseldorf zu sehen sein. Tankard steigt wie ihre Lehrmeisterin Pina Bausch mit wuchtiger Entschlossenheit in die inneren Kämpfe Waslaw Nijinskys ein. Über den Tänzer steuert sie den „Sacre“-Mythos an, wirbelt Kriegsahnung, Sexualität und Untergangsfantasien auf. Ein Orakel mit düsteren Aussichten für uns, aber zugleich auch ein aufwühlendes Erlebnis.
Während sich der Hype um den Tanz-Skandal am Vorabend des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jährt, feiert das Tanzhaus sein 35jähriges Bestehen. Künstler haben diese Institution ins Leben gerufen und dann andere Künstler gefördert. Etwa Akram Khan, der in der Börnestraße in Düsseldorf in einer Werkstatt mit dem Tanzen begann und immer in Kontakt mit dem Tanzhaus geblieben ist. Als Weltstar präsentiert nun er seine Ensemble-Produktion zum Thema „Sacre“, die den listigen Titel „iTMOi (In the mind of Igor)“ trägt (24.-26. Oktober).
Khan konfrontiert bildgewaltig mit den dramatischen Opferritualen. Elegant und sexy und dann wieder erdig und düster taucht er in das Mysterium der Vernichtung ein. Von den eindrucksvollen Bildern des norwegischen Malers Odd Nerdrum, die eine Art Symbiose von Breughel, Rembrandt und Munch darstellen, ließ sich der Engländer in seinen visuellen Kompositionen inspirieren. Während Tankard das innere, psychische Schlachtfeld des Strawinsky-Stoffs ausmisst, setzt Khan auf die grausige Schönheit von Bockshörnern, Abendkleidern und geschundenen Körpern. So stellt sich das „Frühlingsopfer“ immer wieder als Medium dar, mit dem der Tanz die großen Themen unserer Zeit auf die Bühne bringen kann. Und wer einmal das Wummern und Stampfen des Blutes gehört hat, wie es Strawinsky in den Mythos der Moderne eingeschrieben hat, den lässt es nicht mehr los.
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