Mittwoch, 29. Mai: „Nach so vielen Screenings auf so vielen Kontinenten gibt es eigentlich keinen Grund mehr, aufgeregt zu sein – aber so ein Heimspiel vor vielen Leuten, die man liebgewonnen hat, ist doch noch einmal etwas Anderes“, sagte der Filmemacher Mehmet Akif Büyükatalay bei der NRW-Premiere seines ersten langen Spielfilms „Oray“ im Kölner Filmforum. In der Tat hat es sein Abschlussfilm an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) bereits weit gebracht, feierte „Oray“ doch zunächst im Februar seine Welturaufführung in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ auf der Berlinale, und lief in den darauffolgenden Monaten u.a. auf dem Istanbul Film Festival in der Türkei und auf dem Seattle International Film Festival in den USA. Dennoch ist „Oray“ tief verwurzelt in Nordrhein-Westfalen, erzählt er doch die Geschichte eines jungen Türken aus Hagen, der aus Unbedacht seiner Frau gegenüber dreimal das Wort „talaq“ auf die Mailbox spricht – was nach strengen Auslegungen des Korans nicht nur eine dreimonatige Ehepause bedeutet, sondern gar einer endgültigen Scheidung der Ehepartner gleichkommt. Oray (beeindruckend: Zejhun Demirov) flüchtet in eine türkische Gemeinde in Köln, wo er rasch in einem engen sozialen Netz aufgefangen wird und sich gar als Prediger in der Moschee bewähren kann.
Joachim Kühn von der Kinogesellschaft Köln, der den Abend moderierte, erkannte in der Geschichte Parallelen zu Büyükatalays Hintergrund, da dieser in Hagen aufgewachsen war und in Köln studiert hatte. Autobiografische Bezüge weist der Regisseur aber zurück. Stattdessen erläuterte er beim Publikumsgespräch: „Ich kenne diese Welt sehr gut, weshalb dies schon ein sehr persönlicher Film ist. Die Figur des Oray ist von einem Bekannten inspiriert, der auch tatsächlich so heißt.“ Dem Filmemacher geht es in seinem Debüt darum, das Dilemma aufzuzeigen, das sich bei einigen Muslimen durch die Diskrepanz zwischen westlich orientiertem Lebensstil und den Regeln des Islams ergeben kann. Dass sich hier einige zwischen Liebe und Glaube entscheiden müssen, sei nichtsdestotrotz eine persönliche Angelegenheit, weswegen Büyükatalay seinen Film auch „Oray“ genannt habe und keineswegs den Anspruch erhebe, hier ein allgemeingültiges Bild junger Muslime zu zeichnen. Hauptdarsteller Zejhun Demirov merkte jedoch im Filmforum an, dass er „die Figur von Anfang an gut verstanden“ habe. Er habe sie so authentisch wie möglich darzustellen versucht und wollte in seiner Interpretation nachvollziehbar machen, warum sie sich für genau diesen Weg entscheidet.
Einen zentralen Stellenwert im Film nimmt für Mehmet Akif Büyükatalay Orays Predigt ein, mit der er den Film beginnt und die später noch einmal aus einem anderen Blickwinkel auftaucht. Der Filmemacher glaubt, dass viele junge Leute, die sich selbst in YouTube-Videos präsentieren, damit gut identifizieren können. Außerdem ist Büyükatalay der Ansicht, dass sich Minderheiten immer über Negationen charakterisieren müssen. Ähnlich wie ein Intersexueller, der klarstellen müsse, dass er kein Mann und keine Frau sei, müsse er sich als Muslim definieren, indem er deutlich mache, dass er kein Terrorist sei. Hierfür ist „Oray“ ein gutes Beispiel, denn der Film führt uns als Zuschauer in die Welt des Islams ein, wie sie von vielen gläubigen Muslimen hierzulande gelebt wird – fernab von gewalttätigem Extremismus, aber dennoch oftmals im Widerspruch zu einem westlichen Lebensstil. So sei das Wort „talaq“ in der Türkei eigentlich überhaupt nicht mehr gebräuchlich, angesichts der vielen Muslime, die sich ihr Wissen über die Gesetze des Islams durch Internetvideos aneignen würden, hätte es aber dennoch wieder Eingang in den Alltag des „Euro-Islams“ gefunden. Befragt zum eigenwilligen Sprachmix aus Deutsch, Türkisch und Arabisch, den die Protagonisten in seinem Film sprechen, erläuterte der Regisseur, dass ihm dieser sehr wichtig gewesen sei. „Migranten in der dritten Generation erschaffen sich durch diese eigene Sprache eine Art Heimat“, so Büyükatalay. Deswegen hätte er großen Wert darauf gelegt, dass bestimmte Wörter im Dialog bereits im Drehbuch in einer bestimmten Sprache gestanden hätten – auch, wenn es später im Film fast wie improvisiert wirkt. „Oray“ ist ab heute in Köln in der Filmpalette und in den Lichtspielen Kalk regulär im Kino zu sehen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Kölner Filmpalast – Foyer 04/24
Sieben Spitzenprämien-Gewinner
Kinoprogrammpreis-Verleihung in der Wolkenburg – Foyer 11/23
Verfilmung eines Bestsellerromans
„Die Mittagsfrau“ im Casablanca Bochum – Foyer 10/23
Mysteriöses auf schottischem Landsitz
„Der Pfau“ im Cinedom – Foyer 03/23
Alle Farben der Welt
37. Teddy-Award-Verleihung bei der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Endlich wieder gemeinsam feiern
Sommer-Branchentreff 2022 in der Wolkenburg – Foyer 06/22
Industrie im Wandel
„We Are All Detroit“ im Filmhaus – Foyer 05/22
Das Publikum entführen
„Enfant terrible“ in der Lichtburg Essen – Foyer 10/20
Königinnen der Herzen
„Das Wunder von Taipeh“ im Filmforum – Foyer 02/20
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Bären für NRW-Filme?
21. NRW-Empfang im Rahmen der 74. Berlinale – Foyer 02/24
Drei NRW-Filme im Berlinale-Wettbewerb
20. NRW-Empfang im Rahmen der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Hochwertiges deutsches Filmschaffen
Verleihung des Preises der Deutschen Filmkritik 2022 auf der Berlinale – Foyer 02/23