„Wenn dein Computer nicht angekommen ist, kriegst du kein Taschengeld“, erklärt Wolfgang Gröber Fatih seine Situation. Fatih hatte in das Heim, in dem er mit drei anderen Jugendlichen lebt, einen Computer mitgebracht. Das sei schon verboten. Als er ihn aber nach der Begnadigung auch noch an einen Kollegen verkaufen wollte, musste Heimleiter Wolfgang Gröber in die Trickkiste greifen. „Wir kürzen nie das Taschengeld, aber Fatih wollte den Computer verschachern“.
Eine Kultur des Beschwerens schaffen
Der Mitarbeiter der Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe Essen weiß, wie solche Konflikte auf Außenstehende wirken, denn er kennt die Jugendlichen, um die er sich mit seinen KollegInnen kümmert. „Bei diesen Kindern weiß man, da geht gar nix mehr. Es sind Kinder, die Grenzen nicht kennengelernt haben“, so Gröber. Viele von ihnen hätten Gewalt und Vernachlässigung seitens der Eltern erfahren. Eine „Regelgruppe“ in Kinder- und Jugendheimen benötigt im Schnitt für zwei Kinder einen Betreuer. Gröber kümmert sich mit fünf weiteren Kollegen um die vier Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren. „Intensivgruppe“ nennt sich das. Statt mit Strafenkatalogen Ordnung zu garantieren, will Gröber aber „Partizipation“ erreichen: „Es muss eine Kultur des Beschwerens geschaffen werden. Wir wollen sie teilhaben lassen an der Gestaltung des Lebensraumes“, erläutert er das Ziel der Einrichtung. Dies sei nicht immer einfach und erfordere „Mitarbeiter, die das aushalten“, beteuert der Pädagoge.
Umso wichtiger sei daher der Blick von außen auf die eigene Arbeit. Viele Anstöße hätte er im letzten Jahr durch das Projekt „geRECHT in NRW“ erfahren. Die Essener Einrichtung war eine von zwei Modellstätten des Projektes, das ein Jahr lang externe Beschwerdestellen für Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Erziehungshilfe anbot. Dabei ging es vor allem darum, die Jugendlichen unabhängig von den involvierten Heimkräften über ihre Rechte zu beraten. „Es gibt Fragen, die können die internen Beratungsstellen oder Jugendämter nicht beantworten“, so Margareta Müller, Projektmitarbeiterin bei geRECHT in NRW. Bei den Jugendlichen in Essen erfolgte die Rechtsberatung oft über den Weg der persönlichen Geschichte. „Wir hatten Jungs, die über zweieinhalb Stunden erzählt haben. Einige haben da ausgepackt über Erfahrungen der Entrechtung“, erinnert sich Wolfgang Gröber mit seinem Kollegen Fabian Buchwald an eine der ersten Sitzungen mit Mitarbeitern von geRECHT in NRW. In der Folge ging die Dauer der Gespräche zwar zurück, aber die Pädagogen begannen, ihre Strukturen zu hinterfragen. „Was wir durch geRECHT in NRW gelernt haben“, resümiert Gröber, „ist, dass wir die Wünsche der Jugendlichen in unsere Wahrnehmungslücken verdrängen.“ Heute sind sich Wolfgang Gröber und Fabian Buchwald einig über die Notwendigkeit interner und externer Beschwerdestellen. Mit dem neuen Kinderschutzgesetz sind seit 2012 interne Beschwerdestellen vorgeschrieben. Das Projekt „geRECHT in NRW“ ist 2012 ausgelaufen und wird evaluiert. Fatih stellte schließlich den Computer in den Flur und erhielt sein Taschengeld.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Unter Kontrolle
Kindheit zwischen GPS-Tracker, Playdates und Bildungsauftrag in der Kita – THEMA 09/15 WELTENKINDER
„Man kann nicht alles an einem Kind verderben“
Pädagogin Lisette Siek-Wattel über Kindheit heute, Werte und Toleranz – Thema 09/15 Weltenkinder
Angst essen Werte auf
Die Politik hat den Eltern den Glauben an die Herzensbildung ausgetrieben – Thema 09/15 Weltenkinder
Hohles Kindeswohl
Die körperliche und seelische Unversehrtheit von Kindern ist nach wie vor bedroht – THEMA 03/13 SCHUTZBEFOHLEN
„Wir wollten die Auswirkungen des Zölibats erforschen“
Christian Pfeiffer über das schwierige Verhältnis zwischen Kriminologen und Klerikalen – Thema 03/13 Schutzbefohlen
„Täter gibt es überall“
Martina Niemann über die Arbeit des Kinderschutz-Zentrums Dortmund – Thema 03/13 Schutzbefohlen
Schutzengel
Von grapschenden Religionslehrern und Katholischen Krankenhäusern – Thema 03/13 Schutzbefohlen
Branchenprobleme
Intro – Gut informiert
An den wahren Problemen vorbei
Teil 1: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen
„Das Gefühl, Berichterstattung habe mit dem Alltag wenig zu tun“
Teil 1: Interview – Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing über Haltung und Objektivität im Journalismus
Von lokal bis viral
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Landesanstalt für Medien NRW fördert Medienvielfalt
Teuer errungen
Teil 2: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
„Die Sender sind immer politisch beeinflusst“
Teil 2: Interview – Medienforscher Christoph Classen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Aus den Regionen
Teil 2: Lokale Initiativen – Das WDR-Landesstudio Köln
Journalismus im Teufelskreis
Teil 3: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst
„Nicht das Verteilen von Papier, sondern Journalismus fördern“
Teil 3: Interview – Der Geschäftsführer des DJV-NRW über die wirtschaftliche Krise des Journalismus
Pakt mit dem Fakt
Teil 3: Lokale Initiativen – Das Zentrum für Erzählforschung an der Uni Wuppertal
Nicht mit Rechten reden
Der „cordon sanitaire médiatique“ gibt rechten Parteien keine Bühne – Europa-Vorbild Wallonien
Der Vogelschiss der Stammesgeschichte
Wenn Menschenrechte gleich Lügenpresse sind – Glosse
Ich, Menschenfeind
Intro – Rechtsabbieger
Die Unfähigkeit der Mitte
Teil 1: Leitartikel – Der Streit ums AfD-Verbot und die Unaufrichtigkeit des politischen Zentrums
„Die Chancen eines Verbotsverfahren sind relativ gut“
Teil 1: Interview – Rechtsextremismus-Forscher Rolf Frankenberger über ein mögliches Verbot der AfD
Antifaschismus für alle
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Bochumer Antifa-Treff
Hakenkreuze auf dem Schulklo
Teil 2: Leitartikel – Wo Politik versagt, haben Rechtsextremisten leichtes Spiel
„Man hat die demokratischen Jugendlichen nicht beachtet“
Teil 2: Interview – Rechtsextremismus-Experte Michael Nattke über die Radikalisierung von Jugendlichen