August 2012. Eine Erdgeschosswohnung im Dortmunder Norden brennt aus. Die Polizei findet in den verkohlten Trümmern zwei tote Kinder. Ein drittes Kind, das noch lebend geborgen werden kann, stirbt wenig später im Krankenhaus. Massive Stichwunden an den Kinderleichen weisen auf ein Kapitalverbrechen hin. Wenig später wird die Freundin des Vaters der drei Kinder verhaftet. Eine Woche später stirbt ein achtjähriger Junge in Oberhausen. Der Freund seiner Mutter sticht mit einem Messer auf ihn ein. Der verwirrte Mann wird zunächst in einem Krankenhaus behandelt, weil er sich selbst auch mit dem Messer verletzt hatte, dann wird er dem Haftrichter vorgeführt. Nur drei Tage später findet die Polizei in einer Wohnung in Essen ein siebenjähriges Mädchen mit seiner 41jährigen Mutter, beide tot. Die Mutter hatte zunächst ihre Tochter und dann sich selbst umgebracht.
Im vergangenen Sommer erschütterte diese Mordserie das Ruhrgebiet. In allen Fällen töteten psychisch kranke Eltern oder Partner der Eltern wehrlose Kinder. Eine andere Gemeinsamkeit allerdings war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Aber es gab sie. Die Kindsmorde von Dortmund, Oberhausen und Essen sind nur die grausame und spektakuläre Spitze eines Eisbergs. Gewalt an Kindern ist hierzulande an der Tagesordnung. In der Polizeilichen Kriminalstatistik 2011 des Bundeskriminalamtes Wiesbaden wurden 12.444 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und sogar 139.091Fälle gefährlicher und schwerer Körperverletzung von Kindern und Schutzbefohlenen aufgeführt. Die Dunkelziffer wird, so schätzen Kriminologen, um ein Vielfaches höher sein. Schnell werden in der Öffentlichkeit Versäumnisse der Jugendämter thematisiert. Hätten die Behörden von der drohenden Kindswohlgefährdung nicht frühzeitig wissen können und die Kinder den gefährlichen Eltern wegnehmen müssen? Viele Jahre galt die Prämisse, die Kinder möglichst bei den Eltern in ihrem vertrauten Umfeld zu belassen. Durch spektakuläre Fälle, wie nun auch im vergangenen Sommer in Dortmund, Oberhausen und Essen geschehen, hat sich dieser Trend wieder umgekehrt. Die stationäre Unterbringung von Kindern ist in den letzten Jahren rapide angestiegen.
Nicht der publikumswirksame Gewaltexzess ist die Regel, sondern die strukturelle Gewalt, die Kinderarmut
Dabei befindet sich die Gesellschaft in einem Dilemma. Auch die Heime galten viele Jahre nicht gerade als Orte der Glückseligkeit. Die schweren Missbrauchsfälle nicht nur in den 1950er Jahren, die jüngst erst publik wurden, diskreditierten die Kinderheime. Oft bildeten sich in den Heimen ausgeklügelte Systeme, in denen, von der Außenwelt unbemerkt, ganze Generationen von Kindern misshandelt, sexuell missbraucht und gedemütigt wurden. Staatliche Träger, im Fall des Ruhrgebiets die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen, versuchten eine schonungslose Aufarbeitung ihrer Geschichte. Die Kirchen, die viele Heime unterhielten und unterhalten, waren da zögerlicher. Anfang des Jahres kam es sogar zum Showdown zwischen dem renommierten Kriminalwissenschaftler Christian Pfeiffer und dem Klerus. Unter dem Schock der peinlichen Veröffentlichungen von Missbrauchsfällen in ihren Heimen, Schulen und Internaten, bestellte die Katholische Kirche den bekannten Professor aus Hannover, verweigerte ihm aber wenig später den Zugang zu ihren Personalakten und wollten alle Veröffentlichungen des wissenschaftlichen Instituts vorab Korrektur lesen. Als vor wenigen Wochen die Zusammenarbeit gekündigt wurde, war für die Kirche und ihre Einrichtungen der Imageverlust groß.
Dabei ist die Lage insgesamt gar nicht so entmutigend, wie sie nach dem Blick in die Zeitungen erscheint. Die Gewalt an Kindern, so die Kriminalitätsstatistik, ist im Vergleich zu den Vorjahren leicht rückläufig. Dass die Zahl der aktenkundigen Fälle von sexuellem Missbrauch etwas ansteigt, mag an einer fortschreitenden Enttabuisierung des Themas liegen. Auch die Situation in den Heimen, die ja inzwischen oft eher als ein Verbund von familienähnlichen Wohngemeinschaften organisiert sind, hat sich entspannt. Natürlich haben es viele Kinder in unserer Gesellschaft nach wie vor schwer. Nur hilft hier keine Skandalisierung. Kinder leiden natürlich nach wie vor unter gewalttätigen Eltern und auch Institutionen. Aber nicht der publikumswirksame Gewaltexzess ist die Regel, sondern die strukturelle Gewalt, die Kinderarmut, der eingeschränkte Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe.
In den letzten Wochen sorgte ein von der Bundesregierung zunächst unter Verschluss gehaltenes Gutachten für Furore. Auf 200 Milliarden Euro belaufen sich jedes Jahr die Fördergelder, die Berlin an die Familien der Republik zahlt. Kindergeld, Ehegattensplitting, Erziehungsgeld und Co. allerdings kommen weniger den Kindern oder der Gesellschaft zu Gute, sondern eher den Eltern mit mittlerem und höherem Einkommen. Direkte Investitionen in Kinderbetreuungsplätze könnten Chancen für die Schwächsten unserer Gesellschaft spürbar verbessern. Würde jeder Euro, der bislang in das Ehegattensplitting fließt, für Gewaltpräventionsprojekte ausgegeben, wir müssten uns nicht mehr so sehr um unsere Kinder zu sorgen.
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