Seines Wissens nach gilt es sofort. Unverzüglich. Diesen Moment deutscher Geschichte, in dem SED-Funktionär Günter Schabowski quasi das Ende der DDR verkündet, bildet auch den Ausgangspunkt von Harald Martensteins Roman „Schwarzes Gold aus Warnemünde.“ Bloß ist hier nicht die Reisefreiheit gemeint, sondern die Ölförderung vor Warnemünde, die aus der sozialistischen Diktatur ein opulentes Öl-Imperium machen wird – das ist das Setting für Martensteins Dystopie, aus der er in der Alten Druckerei Herne vorlas.
„Geld verändert alles: Das ist ein Schlüsselsatz des Buches“, sagte Martenstein. Denn das aus der Ostsee gewonnene schwarze Gold bringt den Bürgern des Arbeiter- und Bauernstaates nicht die ersehnte Freiheit – dafür aber 6000 Euro pro Monat geschenkt, jetzt hat man's ja. Es ist eine verkehrte Welt, in die Martenstein und sein Co-Autor Tom Peuckert ihre Leser entführen: gescheiterte Polit-Gestalten finden eine neue Heimat im reichen Osten und Gastarbeiter aus dem Westen stehen Schlange, um sich im Öl-Imperium ausbeuten zu lassen. Darunter auch Martenstein selbst, der als Protagonist des Romans versucht, Skandal-Geschichten aus der DDR an westdeutsche Magazine zu verkaufen. Das stellt sich aber als schwieriger heraus als gedacht, da auch die Medien der BRD auf die Darlehen der DDR angewiesen sind.
Dabei trifft er auf bekannte Gestalten aus Politik und Zeitgeschichte, die im Erdöl-Sozialismus ganz andere Wege gegangen sind: Sarah Wagenknecht zum Beispiel macht als Yoga-Lehrerin den sozialistischen Sonnengruß. Und zu Guttenberg preist als Wirtschaftsminister das „Wissen-Wie“ der DDR-Sicherheitstechnik an. Eine amüsante „Was-wäre-wenn“-Geschichte, die aber auch einen ernsten Kern hat. Über die Wiedervereinigung heiße es ja, dass sie im Nachhinein betrachtet notwendig war, gar kein Weg an ihr vorbeigeführt häte, sagte Martenstein. Dabei hätte es auch alles anders kommen können, wenn der Zufall es gewollt hätte. Leben möchte Martenstein in dieser seltsamen Welt aber nicht.
Wahnsinn, über den es sich zu schreiben lohnt, findet er ja auch hier mehr als genug. Davon zeugen seine Kolumnen, mit denen er den zweiten Teil des Abends bestritt: Freud und Leid der Vaterschaft, Katzen mit Hitler-Bärten, und die gute deutsche Sargpflicht – mit leichtem Ton beleuchtete Martenstein den Irrsinn der Gegenwart. Was ihn auszeichnet ist, dass er dem Wahnsinn der Welt nicht mit Empörung begegnet, sondern ihn freundlich und mit schelmischem Grinsen in Empfang nimmt.
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