Essen, 15. November – „Herr von Bohlen“ feierte vor ausverkauftem Haus die deutsche Kinopremiere und begeisterte das Publikum. Es war eine gute Wahl, das Essener Astra Kino für diesen Anlass zu wählen und damit in der Stadt zu starten, die genuin mit der Familie Krupp verbunden ist. André Schäfer gelingt in seinem dokumentarischen Spielfilm – oder sollte man sagen spielerischen Dokumentarfilm – über den letzten Spross der Stahl-Dynastie Arndt von Bohlen und Halbach ein kluger dramaturgischer Schachzug. Er lässt seinen Schauspieler zumeist an originalen Schauplätzen mit einem fingierten Reporter über seine Rolle und sein Leben räsonieren, ohne die gespielte Geste zu verschleiern. So sehen wir gleich zu Beginn des Films ein Casting, in dem scheinbar der einzig mögliche Darsteller für von Bohlen gefunden wird: Arnd Klawitter durchdringt in Idealbesetzung die Rolle des schillernden Milliarden-Erben und wurde dafür in Essen bejubelt.
„Herr von Bohlen“ hebt sich von üblichen Angestrengtheiten des Doku-Porträt-Formats ab. Er beißt sich nicht an biografischen Eckdaten fest, sondern sucht dem Geist des Protagonisten auf die Schliche zu kommen. Nur ein einziger Zuschauer mokiert sich im Filmgespräch unter Buhrufen der Übrigen über die nicht erreichte Ähnlichkeit zwischen dem Schauspieler und dem Original. Ihm optisch zu ähneln, sei aber auch gar nicht der Anspruch gewesen, betonen Regisseur und Hauptdarsteller im Filmgespräch. Im Laufe des Drehs wurden Kontaktlinsen in der korrekten Augenfarbe, wie manch anderes unnötige Requisit, über Bord geworfen worden zugunsten einer würdevollen emotionalen Annäherung. Mit Respekt habe man versucht, Arndt von Bohlen zu begegnen, um seine Ängste und Nöte zu verstehen und auszutarieren. Der letzte Krupp, der diesen Namen nicht führen durfte, musste damit umgehen, dass man ihm die Leitung des gigantischen Familien-Konzerns nicht zutraute und er – unter maßgeblicher Einflussnahme von Berthold Beitz – zum Erbverzicht von rund 3,5 Milliarden Mark überredet wurde. Das Leben, das er sich stattdessen aussuchte, war der ganz große Jetset mit Glitter und Glamour. Die Regenbogenpresse der Bundesrepublik stilisierte ihn zum Hassobjekt. Seine Homosexualität lebte er offen und in vollen Zügen, möglicherweise in den 1970er Jahren der spießigen BRD auch ein Grund, ihn nach einer zunächst vielversprechenden Ausbildung für untauglich zu erklären. Er liebte die Maskerade, den schillernden Auftritt, und seine stilistischen Überhöhungen nehmen im Laufe der Jahre eher zu. Das alles macht diese illustre Persönlichkeit zu einem spannenden Helden für André Schäfer. Arndt von Bohlen war ein Mann, den die Generation der Eltern ablehnte, weil er sie verstörte.
Die ganze Dramaturgie des Films geht letztlich auch darauf zurück, erläutert Schäfer, dass es nur wenig originales Interview- und Fernsehmaterial mit Arndt von Bohlen gebe. Die Krupp-Stiftung habe ihre Archive dem Filmteam nicht geöffnet. So ergab sich in Ermangelung des Materials auch ein größerer Interpretationsspielraum, den die Macher mit viel Lust und Witz nutzen. Der große Glücksfall des Films, bestätigt der Regisseur, sind einige Zeitzeugen, allen voran der Nachlassverwalter Holger Lippert, der amüsant und vielschichtig die Geschichte neu beleuchtet. „Beitz hat ihn über den Tisch gezogen.“ Die zwei Millionen Jahresabfindung, über die sich die Republik öffentlich das Maul zerriss, relativieren sich unter den Einschätzungen Lipperts gravierend. Offensichtlich ist ihm die Möglichkeit einer Rehabilitierung des von Freunden als gebildeten und extrem großzügigen geschilderten Mannes eine Genugtuung. Arndt von Bohlens weiche, liebenswerte Art, der scharfe Humor und seine exzentrischen Verrücktheiten waren seiner Zeit voraus. Er starb jung nach schwerem Krebsleiden. Seiner Frau Henriette zufolge, die sich nach langem hin und her nicht zu einer Mitarbeit am Film entschließen konnte, war er am Ende „ausgeglitzert“. Schäfer bediente sich für die Spielfilm-Dialoge, die oft vor Witz sprühen, überwiegend aus „in den Mund gelegten Zitaten“ der zeitgenössischen Presse. So sehen wir Arnd Klawitter vor dem Familiengrab der Krupps in Bredeney: Gekleidet in seinen unmöglichen Pelzmantel und vollem drag stellt er fest, dass er als einziger Krupp nicht in dieser Gruft begraben ist: „Der letzte Krupp tanzt aus der Reihe, aber wenigstens tanzt noch einer.“
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