Das Ruhrgebiet lasse sich vor allem durch zeitliche Bezüge begreifen, sagt der Publizist Per Leo in seinem neuen Buch. Ein Gespräch über das Schlüsseljahr 1958, Heinrich Bölls Scheitern und die Verbindung von Industriekultur und NS-Aufarbeitung.
trailer: Herr Leo, warum ist es zum Scheitern verurteilt, die Geschichte des Ruhrgebiets zu schreiben?
Per Leo: Als Historiker unterscheide ich zwei Arten von Geschichte: Erstens die Geschichte, die einen Anfang und ein Ende hat, z.B. einer Epoche oder eines Lebens. Zweitens die Geschichte eines Gegenstands, der sich im Laufe der Zeit verändert. Dafür muss etwas da sein, das sich im Wandel wiederkennen lässt. Das Ruhrgebiet aber ist ein Phänomen, das sich weder geografisch noch institutionell oder politisch definieren lässt. Auch seine Gestalt ist nicht stabil. Es gibt keine einheitliche Landschaft, und das Bild der Region hat sich mit dem Kommen und Gehen der Montanindustrie zweimal komplett verändert. Trotzdem wird ständig die Frage gestellt, was diese komische Region zusammenhält.
Deswegen schreiben Sie, das Ruhrgebiet sei durch Zeitbezüge zu verstehen.
Ja. Man kann zwar keine klassische Geschichte des Ruhrgebiets schreiben. Was man aber beschreiben kann, das sind Erfahrungen und Perspektiven, die so nur im Ruhrgebiet möglich waren. Und dazu gehören nicht zuletzt Zeiterfahrungen. Das Nebeneinander von Noch-nicht und Nicht-mehr beispielsweise ist ein Dauerthema imRuhrgebiet: auf der einen Seite die Frage, was aus der Region zukünftig wird, sei es eine Megacity wie Berlin oder ein postindustrieller Landschaftspark. Auf der anderen Seite gibt es den nostalgischen Rückblick auf das, was mal war. Interessanterweise galt diese Nostalgie einst der vorindustriellen Landschaft, wo sie heute den Denkmälern der Industriekultur gilt. Die Inhalte von Rückblick und Ausblick verschieben sich permanent. Aber der Zeitbezug selbst, die doppelte Struktur von Noch-nicht und Nicht-mehr, bleibt stabil.
„Die Frage, was aus der Region wird: Megacity oder postindustrieller Landschaftspark“
Den Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll sehen Sie als gescheitert im Versuch, in seiner Reportage (1958) das Ruhrgebiet zu begreifen?
Böll landet einerseits im Klischee, andererseits in der Vermeidung einer komplizierten Wirklichkeit. Er kann das Ruhrgebietnur negativ beschreiben, als das, was es nicht ist. Es gab für ihn hier keine „richtige“ Sonne, keinen „richtigen“ Sommer, keine „richtigen“ Wolken, sondern immer nur einen Ersatz: statt der Wolken etwa den Rauch der Schlote. Ich kritisiere Böll aber auch so scharf, um eine Gegenfigur zu stärken: den Schriftsteller Joseph Roth gelingt in einer ähnlichen Reportage unglaublich gut, was Böll misslingt. Roth geht mittenrein in die Ruhrgebietsphänomene und beschreibt sie aus sich selbst heraus.
„Ich kritisiere Böll auch so scharf, um eine Gegenfigur zu stärken: Joseph Roth“
Das Jahr 1958 beschreiben Sie als Schlüsseljahr für die Region. Warum kam es, wie es in Ihrem Buch heißt, zu einem „Ende des Werdens“ und einem „Anfang des Vergehens“?
Es ist ein Schlüsseljahr, weil kurz vorher die erste große Kohlekrise beginnt. Bis dahin war zwar nicht klar, in welche Richtung sich das Ruhrgebiet entwickelt, aber es war eine pulsierende Boom-Region. Ab 1960 verdunkelt sich die grundsätzlich optimistische Zukunftsperspektive – und zwar dauerhaft. Der Prozess des Niedergangs zog sich ja über Jahrzehnte hin, Ende der 70er Jahre ließ sich dann auch die Stahlkrise nicht mehr leugnen. Es gab keinen Anfang und kein Ende des Ruhrgebiets, aber an Kipppunkten um 1960 oder um 1980 konnte man begreifen, dass das einstige Werden der Montanregion in ein unaufhaltsames Vergehen überging. Und erst damit stellte sich dann auch die Frage nach ihrer zukünftigen Identität.
„Industriekultur und NS-Aufarbeitung zu verbinden war eine Besonderheit des Ruhrgebiets“
In der sogenannten Essener Schule sehen Sie dann einen Identitätsanker?
In Essen entstand Ende der 1970er Jahre eine Geschichtsszene, die akademische Wissenschaftler mit Laien aus dem Umfeld von DKP, der Stadtgesellschaft und lokalen Initiativen zusammenbrachte. Von diesem Netzwerk gingen wichtige Impulse für eine neue Identität des Ruhrgebiets aus. Der Historiker Lutz Niethammer etwa dachte die Regionalgeschichte des Ruhrgebiets mit der des Antifaschismus zusammen. Beim Kriegsteilnehmer Ernst Schmidt kommen die Aspekte von Lokal- und Erinnerungskultur zusammen. Das Interesse an der Geschichte des Widerstands traf auf das Bestreben, Orte wie die Alte Synagoge zu erhalten. Die Denkmalpflege mit regionaler Identität, Industriekultur und NS-Aufarbeitung zu verbinden: Das war eine Besonderheit des Ruhrgebiets.
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