Mit dem Tode von Dietrich Fischer-Dieskau im Mai dieses Jahres ist der „Anführer“ im steten Kampf für die Kultur des Kunstgesanges und insbesondere des deutschen Liedes abgetreten. In seinen legendären Liedinterpretationen spuckte er wie einst die großen Heroen des Sprechtheaters die Konsonanten über das schaudernde Volk und erzeugte auf diese Weise ganz eigene Feuchtgebiete in den ersten Reihen des andächtigen Auditoriums. Erben als Verfechter höchster Klangkultur hat Fischer-Dieskau wie zuvor auch seine Kollegin Dame Elisabeth Schwarzkopf über Jahrzehnte nachgezüchtet, wobei einige aber den freiheitlichen Geist bewahrten, Nutzen aus der Lehre mit eigenen Vorstellungen zu kombinieren. Extrem erfolgreich gelang dies dem Bariton Matthias Goerne, der jetzt in Köln und in Essen Recitals abhält – so heißt ein intimer Soloabend, in unserem Falle ein Liederabend, für einen Sänger mit Pianist. In Essens Philharmonie betreut er sogar eine Masterclass. Und das kann spannender sein als jeder Liederabend.
Matthias Goerne traut sich was. Er unterstreicht seine Interpretationen mit einer sehr exaltierten Gestik, einem intimen Körpertanz, der nicht nur Freunde findet. Das Wort „Manieriertheit“ taucht in diesem Zusammenhang gern auf, und mancher Künstler hat es bereits geschafft, nur durch unnatürliche und unangemessene körperliche Ausdrucksfreude Aufmerksamkeit bis Ekel zu erregen. Es gibt aber auch eine befruchtende Koexistenz von mimischem Spiel und Musik, und diese Gratwanderung gelingt Goerne sehr überzeugend. Dann liefert ein solcher Seelentieftauchgang außergewöhnliche Konzerterlebnisse.
Mit den Wiener Philharmonikern besuchte er unlängst Australien, Hong Kong und Japan, er gastierte an der Wiener Staatsoper, beste Konzertsäle der Welt wechseln mit den bedeutenden Opernbühnen, vom „Papapapapa“-geno bis zur Titelpartie in Alban Bergs „Wozzeck“ hat Goerne einiges im Repertoire. Aber die Liederabende sind sein Steckenpferd, selbst mit dem Musikweisen Alfred Brendel hat sich der gebürtige Weimarer nochmals nach seinen Studien bei Fischer-Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf in die Klangwelten Schuberts versenkt. In Köln umstellt er Schubert mit Beethoven und Brahms. In Essen rückt er für die Masterclass ein Masterpiece Schuberts in den Fokus: „Die schöne Müllerin“ serviert er am Vorabend seines Unterrichts.
Wer schon einmal einer Meisterklasse lauschen durfte, der weiß, dass hier einiges aus dem Nähkästchen der großen Gestaltungskunst geplaudert wird. Der Dirigent und Pianist Christoph Eschenbach, Essener „Artist in Residence“ der aktuellen Spielzeit, und Matthias Goerne beraten Sänger und ihre Begleiter, auch das ist ein seltener Fall und lockt dadurch bereits entsprechend neugierige Kulturfreunde an. Wer einmal wirklich etwas über das Singen im Kunstbereich, also meilenweit abseits aller Casting-Shows mit idiotischen Laien-„Fachkräften“ mit großen Nasen oder großen Mäulern, wissen will, der kann hier schlauer werden – und das kann nie schaden.
Recital mit Christoph Eschenbach: Sa 20.10. 20 Uhr IMasterclass mit ausgewählten Studenten: So 21.10. ab 12 Uhr, Konzert mit den Studenten: 20 Uhr IPhilharmonie Essen I www.philharmonie-essen.de
Recitalmit Pierre-Laurent Aimard I Do 25.10.20 Uhr I Philharmonie Köln I www.koelner-philharmonie.de
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