Eigentlich war die „Herstellung“ von Kastraten seit dem Jahre 1587 in Europa verboten. Hatten die Entmannten im Orient und in China als Harems-Eunuchen ihre sinnvolle Funktion, erfolgte diese Zeremonie im frühchristlichen Bereich aus asketisch-religiösen Gründen. Mitte des 16. Jahrhunderts tauchten an den Höfen von Ferrara und Mantua erste Kastratensänger auf, die ihre Entmannung „künstlerischen“ Gründen verdankten: Manchmal war eine potentielle Anstellung als Kirchensänger die einzige Hoffnung für arme Familien, ihrem Nachwuchs eine gesicherte Zukunft vorzubereiten. Kastraten wirkten also in einer sehr großen Zahl an den Höfen und Kirchen, auch in der päpstlichen Kapelle in Rom. Italien wurde das Mekka der Gesangsvirtuosen, Italiener triumphierten von Wien über Dresden bis London auf den Opernbühnen. Junge Kastraten debütierten in Frauenkleidern, Heldenrollen wurden eigens in die Kehle geschrieben. Mozart erlebte als Knabe noch die Glanzzeit der italienischen Oper, er selbst komponierte für Kastraten.
Als im Zuge der Alte Musik-Bewegung in den 1970ern zahlreiche Opernausgrabungen aufführungspraktische Lösungen für die Ersetzung nicht vorhandener Kastraten einforderten, gab es zwei Wege. Wie auch historisch angelegt konnten Frauenstimmen eingesetzt werden, alternativ wurden Falsettisten oder Countertenöre herangezogen. Letzteres hat bis heute einem ganzen Berufsstand zur Blüte verholfen, und die beruflich professionelle Ausbildung an den Hochschulen bringt manche Bariton- oder Tenorstimme nah heran an den (nur zu vermutenden) Zauberklang der Kastratenstimme. Trotzdem wurde für den Kinothriller „Farinelli“ über das Leben eines solchen Virtuosen eine Mischstimme aus Frauen- und Counteranteilen synthetisch erzeugt.
Wer jetzt einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit männlicher Alti und Soprani bekommen will, hat die einmalige und erstmalige Chance, die Oper „Artaserse“ zu erleben. Der Komponist Leonardo Vinci schrieb sie in Rom auf eine Dichtung Metastasios, und da Frauen auf Opernbühnen damals verboten waren, wurden fast alle Rollen mit Kastraten besetzt – heute eine Chance für Counter! Jaroussky, Cencic, Barna-Sabadus, Fagioli und Mynenko zählen zur Weltklasse der Falsettisten. Daniel Behle tritt als Tenor gegen diese Riege von (einstmals von konservativen Opernabonnenten als Schreckgespenster empfundenen) „Perversen“ an, leider in Köln nur in einer konzertanten Aufführung. Denn obiges Bild zeigt, dass auch nach der Maske die Herren optisch eine relativ schrille und tuntige Welt darbieten, es stammt von der Premiere in Nancy. Das Team mit Concerto Köln und dem Dirigenten Diego Fasolis kommt direkt aus Paris nach Köln, eine frische CD mit dieser Weltpremiere befindet sich im Gepäck. Auch wenn sich die Oper am Dom nicht wirklich gut für konzertante Oper eignet, wie wir seit der Fidelio-Premiere wissen, der Einsatz von fünf Counterstars bleibt ein ganz seltenes Ereignis – seltener als weiße Weihnacht am Rhein.
„Artaserse“ | 17./19./27.12. 19.30 Uhr | Oper am Dom Köln | www.operkoeln.com
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