Essen, den 2.5.: Es gibt diese Momente, in denen uns ein Mensch auffällt. Weil er aus der Masse heraus sticht oder abseits alleine steht. Wir beobachten diese Person, studieren ihre Haltung, ihre Mimik und etwas fesselt uns an der Art, wie er oder sie ein Buch, ein Bier oder eine Zigarette hält. Wenn sich dann die Blicke kreuzen und wir den Mut fassen, ein Gespräch zu suchen, versuchen wir dem Gegenüber telepathisch einzuflüstern: Bitte, sag oder tue jetzt nichts, was diesen ersten, magischen Eindruck zerstört.
Ein ähnliches Gefühl wie dieses Flirtszenario erzeugt auch Kerstin Poltes Debüt-Spielfilm „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“. Es ist einer dieser Filme, die man von Anfang an mögen will. Liebevolle Opening Credits, ein schmissiger Song, wohl komponierte Einstellungen, die einen emotional und ästhetisch auf das vorbereiten, was kommt. Und auch während dieser Exposition hoffen wir inständig, dass der erste, positive Eindruck nicht zerstört werden möge. Diese Hoffnung setzt in diesem Fall unterbewusst schon vor der Filmvorführung ein. Die Regisseurin und HauptdarstellerInnen Meret Becker, Karl Kranzkowski und Annalee Ranft nehmen sich Zeit auf dem roten Teppich, machen Faxen vor der Fotowand, wirken bodenständig, sympathisch. Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen posiert mit seinem Mann David Lüngen, Joachim H. Luger (besser bekannt als Hans Beimer aus der „Lindenstraße“) versucht sich mit Sonnenbrille vorbei zu schleichen.
Im Saal berichtet Maximilian Leo von der Produktionsfirma „Augenschein“, dass es über sieben Jahre vom Exposé auf seinem Tisch bis zur Realisation des Films gedauert habe, der schließlich in nur 25 Drehtagen auf Fehmarn mit viel Herzblut abgedreht wurde. Thomas Kufen bescheinigt der Regisseurin, alles richtig gemacht zu haben: „Sie feiern die Premiere im größten und schönsten Kino Deutschlands“. Im Mittelpunkt des Films steht Charlotte (Corinna Harfouch), die nach mehr als 37 Jahren Ehe mit ihrem Mann Paul (Karl Kranzkowski) nicht nur unter der Routine leidet. Charlotte vergisst immer mehr und fürchtet sich davor, gänzlich zu verschwinden. Weder ihrem Mann, noch ihrer chaotischen Tochter Alex (Meret Becker) oder ihrer Enkelin Jo (Annalee Ranft) vertraut sie sich an. Als sie Paul spontan an einer Autobahnraststätte stehen lässt und mit Jo zu einem Abenteuertrip aufbricht, setzt der impulsive Befreiungsakt erst die Handlung in Gang.
In „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ werden eine Vielzahl von Themen gleichermaßen tiefgründig wie leichtfüßig verhandelt: Es geht ganz praktisch um Krankheit, Alter, allein erziehende Mütter, rebellische Töchter, die Tücken des Alltags eben. Auf einer Metaebene streift die Regisseurin aber die ganz großen Themen wie Tod, Glaube, Gott und immer wieder auch die Liebe in all ihren verschiedenen Stadien. So bleibt der Film radikal im Jetzt verortet und wirkt dennoch universal. Figuren, Dialoge und das Setting sind authentisch, aber bewusst nicht realistisch. Wenn Charlotte in einer Badewanne schwimmen übt, Bruno Cathomas alias Horster, alias Gott aus dem Off kommentiert oder sich die Szenen in einem Hotelzimmer inmitten von mit Moos bedecktem Inventar abspielen, entwickelt „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ surreales Flair.
Auch die Figuren überzeugen mit all ihren kleinen Macken. Die junge Annalee Ranft agiert völlig natürlich als weiseste Figur, Meret Becker beweist ihr Talent für perfekt getakteten Slapstick. Gemeinsam mit Sabine Timoteo als wortkarge Truckerin verschmilzt sie außerdem in einer wunderschönen Liebesszene. Der typisch männliche Blick wird hier durch den des weiblichen Begehrens ersetzt, fast beiläufig, alltäglich und gerade dadurch wirkmächtig. Mit ihrem Debüt ist Kerstin Polte ein märchenhafter Roadmovie gelungen, der zum Lachen und zum Weinen bringt und die großen wie die kleinen Dinge des Lebens aufgreift und zusammenführt.
Im Anschluss an das Screening werden Regisseurin, Cast und Crew dafür vom Publikum in der fast ausverkauften Lichtburg gefeiert. Ungewöhnlich: Noch vor den DarstellerInnen holt Kerstin Polte ihre Kamerafrau Anina Gmuer auf die Bühne, mit der sie seit Jahren eng zusammenarbeitet. Die Regisseurin, die letzte Woche auf dem Internationalen Frauenfilmfestival in Köln ihren kurzen Dokumentarfilm „Von Seepferdchen und Schränken“ über die Berliner Aktivistin und Rapperin sookee vorstellte, freut sich über soviel weibliches Knowhow am Set. „Wir waren so viele Frauen, dass ich Karl manchmal zu den Beleuchtern geschickt habe, damit er mal unter Männer kommt“, scherzt sie.
Neben Meret Becker, Karl Kranzkowski und Annalee Ranft gesellen sich noch Johannes Gwisdek (Musik), Ina Timmerberg (Szenenbild) und Tanja Liebermann (Kostüm) dazu. Auf die Frage, ob es Parallelen zwischen ihr und den Figuren im Film gebe, antwortet Kerstin Polte: „Ein bisschen mutig sein ist scheiße. Entweder ganz oder gar nicht. Das gilt für die Figuren im Film, für mich selbst und das gesamte Team, das diesen Film einfach gemacht hat“.
Der Mut hat sich für Kerstin Polte ausgezahlt. Ihr zweites Langfilm-Projekt hat bereits eine Förderung erhalten und trägt den Arbeitstitel „Die Bombe“. Es soll ein Ensemblefilm werden. „So wie Babel, nur mit mehr Humor“, verrät sie. Während sie noch mit ihrem Team im Foyer der Lichtburg feiert, steht Thomas Kufens Mann in der Schlange am Automat im Parkhaus an. Der OB steht abseits und unterhält sich mit jemandem über den Film. Annalee Ranft und ihre Familie drängeln sich charmant vor, da die Tochter morgen in die Schule müsse. Es folgt ein kurzer Small Talk mit ihr über Perserkatzen wie die im Film, bevor alle wieder in ihr eigenes Leben zurückkehren. Auch manchem Ende kann, bei aller Alltäglichkeit, ein gewisser Zauber innewohnen.
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