„Buchstabierte Blaubeerküsse“, „Fieberglasträume“ und „Kleebaumzungen“ – schon das titelgebende Gedicht von Thomas Dahls neuem Lyrikband „Kleebaumnacht“ zeigt deutlich, dass hier jemand am Werk ist, der Wörter nicht nur als reines Mittel zum Zweck benutzt. Vielmehr spielt Dahl mit ihnen, er gibt ihnen neue Formen und Farben, eine neue Bedeutung, löst ihre Grenzen auf und definiert sie neu. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist „es staben die buchen“: ein Gedicht, in dem Dahl in alphabetischer Reihenfolge Buchstaben erkundet, ihnen ein Wesen und einen Charakter gibt – nur um dann gegen Ende des Gedichts eben jene Logik aufzubrechen, indem er sie einfach nicht mehr einhält. Stattdessen bringt er einen Verweis auf den Wahn des Autors ein – und verwirft damit jede bis dahin empfundene Erleichterung über den vermeintlich adretten und zugänglichen Verlauf des Gedichts.
Dahls Lyrik entwindet sich dabei jedem Versuch, sie anhand gängiger Stilmittel zu analysieren. Sie ist frei schwebend und sich selbst und alles, woran wir uns als Menschen gerne festhalten – Gott, unserem Verstand – versagt sie sich sehr deutlich, immer und immer wieder. So heißt es etwa in einem Gedicht „Wer den Verstand sich erleuchten mag / Bleibt verrückt und trinkt den / Sonnentag aus dunklem Quell“, in einem anderen „erfriert“ Gott an Einsamkeit „von Sternen rundumfunkelt“. Dahl reißt seine Leser damit in einen Strudel aus Wörtern und Wahn. Er stellt Autoritäten infrage – die des Verstandes, des Intellekts, die der Religion, aber sogar seine eigene als Autor. Er zeigt, wie brüchig die Fassade unserer eigenen Gefühle ist, und wie sich hinter jedem Gefühl, jedem Bild ein weiteres verbirgt.
Trotzdem, und das ist das Spannende an Dahls Lyrik, ist sein Gedichtband eine Ode an das Leben, in seiner ganzen Bandbreite an Gefühlen, Stimmungen, Verheißungen, Sehnsüchten. Wer in seinen Gedichten eine konsequente Logik sucht, wird sich schwertun – wer sich aber von klassischen Kategorien lösen und auf Wörtern tragen lassen möchte, ist hier richtig. Denn Dahl schafft es, die ganze, oftmals als so schwer empfundene Sinnlosigkeit, die ein Menschenleben mit sich bringen kann, einzufangen. Doch anstatt an ihr zu verzweifeln, fordert Dahl sie zum Tanz, erfreut sich an ihr, spielt mit ihr. Und kreiert damit ein Stück künstlerische Erleichterung: Wenn ohnehin nichts in festen Formen fassbar ist – warum sich dann nicht einfach dem Unerklärbaren hingeben, mit spielerischer Leichtigkeit?
Thomas Dahl: Kleebaumnacht | TwentySix | 9,90 € (Ebook 4,99 €)
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