Schwarz auf Gold stehen 1.362 Namen geschrieben. Gefallene des Ersten Weltkriegs aus Bochum. Im Jahr 1931 wurde jenes Mosaik aus unzähligen Steinen auf die Innenwände des Kirchturms der Christuskirche angebracht. Mit den Namen der nur 30 Gefallenen aus dem Krieg 1870/71 und den Namen der 25 Staaten, gegen die Deutschland von 1914 bis 1918 Krieg führte, bildete der Kuppelbau eine Heldengedenkhalle. Diese war aber nicht lange in Betrieb. Neue deutsche Helden erklärten 1939 der Welt abermals den Krieg. Eine Antwort auf dieses Heldentum war die Bombardierung Bochums 1943. Die Christuskirche wurde fast völlig zerstört. Nur der Turm mit seiner Gedenkhalle blieb beschädigt stehen. Doch Heldengedenken war in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr sehr populär. Das Gewölbe diente lange als Stuhllager. Erst im Jahr 1999 wurde das außergewöhnliche Kriegerdenkmal wiederentdeckt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, allerdings eher als Zeitdokument denn zur Heldenverehrung.
Hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs können wir nur schwer nachvollziehen, was damals geschah. Während die Zeit des Faschismus und der Zweite Weltkrieg spätestens nach 1968 in einer breiten Öffentlichkeit thematisiert wurden, gilt die Zeit von 1914 bis 1918 als Domäne für Historiker. Die Umwidmung zu einem Stuhllager schien lange die geeignete Methode zu sein, mit den kriegsverherrlichenden Denkmälern der Zwischenkriegszeit umzugehen. In vielen Städten in Deutschland stehen, unbemerkt von der Öffentlichkeit, Steinklötze mit Reichsadlern und Eisernen Kreuzen herum. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem ersten weltumspannenden Krieg wird vielleicht erst in diesem Jahrestagjahr möglich.
Manche Bilder sind natürlich aus den Geschichtsbüchern bekannt. Männer mit Zwirbelbärten und Pickelhauben marschieren in Reih und Glied am Kaiser vorbei. Begeisterte Kriegsfreiwillige schreiben mit Kreide „Ausflug nach Paris“ auf die Güterwaggons, die sie zur Front fahren. Auch bekannt sind die Fotos wenige Jahre später, ein paar Seiten weiter: Schützengräben, gefüllt mit vom Giftgas erstickten Soldaten im feldgrauen Drillich, zerfetzte Leiber im Stacheldrahtverhau. Es ist natürlich töricht, Kriege an dem Maß ihrer Unmenschlichkeit messen zu wollen. Ob in offener Feldschlacht, im Schützengraben oder im Bombenhagel, das Sterben im Krieg ist selten komfortabel. Trotzdem gilt der Erste Weltkrieg für die Historiker als Zäsur. Weltkrieg bedeutete, dass Australier in der Türkei starben, Kanadier in Belgien, Japaner in China und Deutsche in Südafrika. Auch änderte sich die Art, Krieg zu führen. Der Einsatz moderner Waffen, produziert von der immer wichtiger werdenden Schwerindustrie, ermöglichte das Töten im großen Stil. Nicht nur Kaiser und Kommiss in Berlin sondern auch Krupp in Essen war zunächst Nutznießer der industriellen Tötungsmaschinerie.
In diesem Jahr wird die öffentliche Diskussion versuchen, die Ursachen jenes Krieges neu zu beleuchten. Hätten die großen Industrienationen den armen kleinen deutschen Michel, der zu wenig vom großen kolonialen Kuchen abbekommen hatte, besser behandeln sollen? War der Krieg eine zu ernste Angelegenheit, um ihn den Generälen zu überlassen, die im Sandkasten mit Zinnsoldaten spielen wollten? Für die heutige Zeit mag eine Frage von immer noch aktueller Bedeutung sein: Wie kam es zu der Kriegsbegeisterung 1914, die weit in linke, intellektuelle und kulturbeflissene Teile der Bevölkerung hineinreichte? Und daran anknüpfend: Was können wir heute aus jener Katastrophe lernen? Der Historiker Eberhardt Illner aus Düsseldorf beschreibt die Situation zu Beginn des Ersten Weltkrieges so: „Das System eines Kaiserreiches hatte sich längst überlebt. Die wichtigen Entscheidungen wollten die führenden Köpfe der Industrie treffen, wurden aber einerseits von dem Adel im Zaum gehalten, andererseits forderten auch die Arbeiter mehr Macht.“ In dieser Situation setzte, so Illner, Wilhelm II einen Propagandafeldzug in Gang, um mit verhängnisvoll übersteigertem Nationalismus von den eigentlichen Problemen abzulenken.
Hier sind tatsächlich Parallelen zur Gegenwart zu erkennen. Die politische Klasse in Deutschland agiert in diesen Tagen ständig mit dem Begriff „alternativlos“, egal, ob es um Milliardenbürgschaften für Banken, um Auslandseinsätze der Bundeswehr oder um Koalitionen in Berlin geht. Das davon gelangweilte und teilweise verärgerte Publikum wird bei Laune gehalten, indem von streikenden Südeuropäern berichtet wird. „Die leben von unseren Steuermilliarden“, murren die Stammtische und übersehen dabei, dass jene Steuermilliarden, sind sie von unserem Staat in die Krisenländer überwiesen worden, direkt wieder nach Deutschland zurückgeschickt werden, und zwar zu den Gläubigerbanken in Frankfurt. Natürlich ist trotz dieses PR-Tricks, der die Schuldigen der Krise wieder im Außen sucht, weit und breit in Mitteleuropa kein Krieg in Sicht. Der ist wegen der internationalen Verflechtung des Kontinents gar nicht möglich. Er ist aus deutscher Sicht aber auch gar nicht nötig. Welches Land dominiert nach zwei verlorenen Weltkriegen Europa?
Vor der Christuskirche in Bochum richtet der Künstler Jochen Gerz seit einigen Jahren den „Platz des europäischen Versprechens“ ein. Oft drohte das Projekt schon wegen kommunalpolitischem Gezänk zu scheitern. 15.000 Namen von Menschen sollen auf Basaltplatten zu lesen sein. Jeder dieser Menschen hat ein ganz persönliches Versprechen formuliert, das aber unveröffentlicht bleibt. Mein Name ist auch auf einer Platte zu finden. Das Versprechen, das ich diesem Kontinent gab, besteht nur aus einem Wort. Frieden.
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