Aus der Alten Druckerei wird das Literaturhaus Herne – und soll zu einem zentralen Treffunkt für Literaturbegeisterte in der mittelgroßen Revierstadt werden. Dass das Kulturzentrum an der Bebelstraße das jetzt schon ist, war bei der letzten Lesung unter altem Namen zu erleben: Über 120 Besucher lauschten gebannt, gespannt und gerührt der Schauspielerin Leslie Malton, die aus ihrem „Brief an meine Schwester“ las – eine bewegende Darstellung der Beziehung zu ihrer geliebten Schwester Marion, die an einer unheilbaren Entwicklungsstörung, dem Rett-Syndrom, leidet.
Was wird nun anders, wenn aus der Alten Druckerei ein klassisches Literaturhaus wird? „Wir wollen Kultur fördern, auch über Veranstaltungen hinaus“, erklärt Elisabeth Röttsches. In Sachen Kulturevents ist die Alte Druckerei seit nunmehr fünfeinhalb Jahren fester Anlaufpunkt: 2009 hat Röttsches die ehemalige Zeitungsdruckerei zurückgekauft. Zurückgeauft, weil ihr Großvater Josef Röttsches die Druckerei in den 20ern mit errichtet hat – als der sich weigerte, der NSDAP beizutreten, kam das Gebäude unter den Hammer.
Im neuen Literaturhaus Herne kann der geneigte Revierbewohner auch mitbestimmen: Denn das Literaturhaus ist auch eingetragener Verein, in dem jeder Mitglied werden kann, und somit auch Mitspracherecht hat. Mit dem zusätzlichen Geld aus den Mitgliedsbeiträgen soll das Programm künftig auch ausgeweitet werden. Außerdem wird die an die Alte Druckerei angeschlossene Buchhandlung renoviert, damit dort ein Literaturcafé Platz findet. Mit Veranstaltungsort, Buchhandlung und Café stünden so alle drei Säulen eines klassischen Literaturhauses, so Röttsches. „Gerade dieses kleine Format, wo alles etwas persönlicher ist, wird sehr geschätzt“, sagt sie.
Persönlich war auch die letzte Druckerei-Lesung mit Leslie Malton: Das Buch, das sie zusammen mit Roswitha Quadflieg geschrieben hat, bietet einen mutigen und reflektierten Einblick in ihr Leben. Sie erinnert sich an alte Fotos, an heute noch schmerzende Fehltritte und sie überlegt, ob sie vielleicht Schauspielerin geworden ist, damit sie endlich mal im Mittelpunkt steht – und nicht ihre Schwester, die mit ihrer Krankheit einen großen Teil des Familienlebens bestimmte. Es sind bedrückende, aber entwaffnend ehrliche Gedanken. Was aber überwiegt, ist die Liebe zu ihrer Schwester. Was mag in ihr vorgehen? Manchmal ist es ein ohnmächtiges Rätselraten über ihr Innenleben, jedoch stets sensibel, bedacht, neugierig und voll ehrlichem Interesse – das bald auch der Zuhörer empfindet. Schließlich mündet die Reflektion in tiefer Bewunderung: „Taktik und Kalkül erreichen dich nicht, nur das, was wahr ist“, schreibt sie über Marion.
Trotz der intimen Einblicke – für Leslie Malton stellt das Buch keine persönliche Durcharbeitung dar, sondern vielmehr eine bewusste Aktion für die gute Sache. Ihr gehe es darum, auf die seltene Krankheit ihrer Schwester aufmerksam zu machen, und um nichts anderes, lässt die Schauspielerin wissen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie und ihre Eltern jahrelang nicht wussten, was denn mit Marion los ist. Eine schreckliche Situation, wie Malton schildert: „Man hängt in der Dunkelheit“, sagt sie. Das Rett-Syndrom ist eine spontane, genetische Mutation und nicht vererbbar. Es sei wichtig für Eltern, so Malton, zu wissen, dass sie nicht schuld sind.
Auch im neuen Literaturhaus Herne wird Leslie Malton bald zu Gast sein: Am 26. Apil liest sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Felix von Manteuffel aus Tschechows Briefen.
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