Obwohl die großen Ambitionen der Kulturhauptstadt 2010 beispielsweise beim Bau des Bochumer Musikforums immer noch nachwirken, lässt ein „Literaturhaus Ruhr“ weiterhin auf sich warten. Das bedeutet, dass eine renommierte Institution wie die 1905 gegründete Literarische Gesellschaft Bochum nach wie vor mit ihren Veranstaltungen „nomadisieren“ müsse, so Prof. Dr. Ralph Köhnen, einer ihrer beiden Sprecher, im Gespräch mit dem trailer-ruhr-Magazin. Dennoch konnte am 4.2. wieder ein literarisches Ausrufezeichen gesetzt werden: Mit dem Duisburger Romanautor Sascha Reh las auf Einladung der Literarischen Gesellschaft der Hauptpreisträger des Literaturpreises Ruhr 2015 in der Bochumer Buchhandlung Janssen aus seinem Roman „Gegen die Zeit“.
Mit der Verleihung des Preises für das bisherige Gesamtwerk des Duisburger Schriftstellers hat die Jury des Literaturbüros Gladbeck sowie des Regionalverbands Ruhr (RVR) eine denkbar gute Wahl getroffen. Bereits in der Laudatio zur Literaturpreisverleihung im November hob Jens Dirksen stellvertretend für die Jury hervor, dass Sascha Rehs literarischer Blick auf die Wirklichkeit „nicht von ideologischen Trugbildern verstellt“ sei. Hiervon zeugt auch sein jüngstes Werk, in dem er sich – passend zum aktuellen trailer-Titelfilm – aus der Gegenwartsperspektive heraus mit den Abgründen der faschistischen chilenischen Diktatur unter Pinochet auseinandersetzt.
1973 wurde mit dem Militärputsch in Chile, so Ralph Köhnen einleitend, der drei Jahre währende Versuch der dortigen Sozialisten unter Salvador Allende beendet, in dem Andenstaat – frei nach Bertolt Brecht – „eine kurze, goldene Zeit der Gerechtigkeit aufzubauen“. Sascha Reh blickt auf zwei alternierend abgerufenen Zeitebenen einerseits auf den nach heutigem Wissen indirekt von der US-amerikanischen CIA unterstützten Putsch vom 11. September 1973 sowie die Geschehnisse davor zurück, die im Roman bis 1971 zurückreichen. Andererseits zeigt er auf, wie bereits unter Allende in der schon 1939 gegründeten chilenischen Behörde zur Wirtschaftsförderung namens CORFO (Corporación de Fomento de la Producción) versucht wird, ein „Cybernet“ zu installieren. Dieses Projekt weist mit seiner übereifrigen Datensammelwut zwecks Effizienzsteigerung der Industrie Parallelen zur digitalen Gegenwart auf: „We will anticipate the future“, lässt Reh einen mit der Mission zur Effizienzsteigerung der verstaatlichten Industriebetriebe betrauten unpolitischen Briten sagen, der zu diesem Zweck die digitale Revolution vorwegnehmen will.
Die Einrichtung einer Computerzentrale im CORFO, wo Echtzeit-Daten aus rund 400 übers ganze Land verteilten Fabriken gesammelt werden sollen, floppt zwar aus Kostengründen, doch werden immerhin stabile Telefonleitungen bis in den letzten Winkel Chiles gelegt, um die gewünschten Daten per Telegraph zu übermitteln und auf Lochkartenstreifen zu bannen. Hierdurch liefert das trotz Gleichheitsanspruch effizienzorientierte sozialistische System jedoch eine Informationsbasis, die nach dem Putsch von Pinochets Schergen genutzt werden könnte, um in kürzester Zeit politische Gegner ausfindig zu machen und inhaftieren, foltern und töten zu lassen. Geschildert aus der Perspektive des jungen deutschen Industriedesigners Hans Everding wird zum einen die euphorische Aufbruchsstimmung im Geiste kybernetischer Machbarkeitsphantasien, zum anderen der Zusammenbruch des Glaubens an die Technik zum Zeitpunkt der faschistischen Machtergreifung und der Furcht vor totalitärem Missbrauch des eigentlich zum Wohle der Allgemeinheit installierten Systems.
„Gegen die Zeit“ lotet im historischen Rückblick die ethischen Grenzen technologischer Systemsteuerung aus und stellt die Frage, welchen Preis wir hierfür bezahlen müssten, falls sich ein totalitäres Regime einmal der (globalen) postrevolutionären digitalen Infrastruktur bedienen würde. 2013 reiste Sascha Reh selbst nach Chile und sprach mit ehemaligen CORFO-Teammitgliedern, aus deren Sicht dem Projekt trotz allem auch im Rückblick noch die politische Aufbruchsstimmung der Allende-Zeit anhaftet. Mit angenehmer Zurückhaltung kommentiert der zudem als Familientherapeut arbeitende Autor sein eigenes Werk: „Das Politische kommt hoffentlich zeitgemäß daher“, beantwortet er nach der Lesung eine Publikumsfrage. Das tut es zweifellos, und auf jeden Fall hätte die Veranstaltung ein noch größeres Publikum verdient gehabt. Immerhin fanden sich an „Weiberfastnacht“ mehr als 25 Gäste in der Buchhandlung Janssen ein.
Schon jetzt wird für den 10. März ab 19.30 Uhr zu einer Lesung mit Hanns-Josef Ortheil in den Clubraum der Stadtbücherei Bochum, Gustav-Heinemann-Platz 2, eingeladen. Das literarische Werk des dem „Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft“ der Universität Hildesheim vorstehenden Wissenschaftlers und Autors ist von der Faszination für die „Ewige Stadt“ Rom geprägt.
Sascha Reh: Gegen die Zeit | Schöffling & Co. (2015) | 360 S. | 21,95 €
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