Geschichten von dreiohrigen Hasen, rubinroten Vögeln und winzig kleinen Abenteurerinnen: Im März veröffentlichte der Stern die deutschsprachige Ausgabe der ungarischen Anthologie „Märchenland für alle“. Herausgeber Boldizsár M. Nagy ließ dafür traditionelle Märchen und Sagen in Prosa und Lyrik von zeitgenössischen Autor:innen neu interpretieren. Entstanden sind dabei 17 ausgewählte Textbeiträge, die eine neue und diversere Märchenwelt erzählen – eine, in der jeder Mensch und jedes Tier einen Platz hat.
Ein Mädchen, das sich unerschrocken in ein gefährliches Abenteuer stürzt, ein Rehkitz, das sich in seinem Körper nicht ganz wohlfühlt und sich sehnlichst ein Geweih wünscht, und eine Prinzessin, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, anstatt auf die Rettung durch einen heldenhaften Prinzen zu warten. „Märchenland für alle“ zeichnet eine abwechslungsreiche Welt voll verschiedener Charaktere, wobei die Vielfalt der Protagonist:innen durch bunte Bebilderungen von Illustratorin Lilla Bölecz unterstrichen wird, indem diese das Farbenspektrum der LGBTQI*-Community wunderbar aufgreift. Durch die Anthologie-Form bietet jede Geschichte eine neue Erzählperspektive, etwa wenn Autor Zoltán Csehy mit seinem rhythmisch-erheiternden Gedicht die Geschichte eines unglücklichen Prinzen erzählt, der nicht heiraten möchte, bis ihm unverhofft ein anderer Prinz begegnet, in den er sich bis über beide Ohren verliebt. Originell und fantasievoll vermittelt das Buch wichtige Werte, wobei der Ton der Erzählungen nicht pädagogisch aufgesetzt oder belehrend, sondern authentisch und zeitgemäß wirkt.
2020 löste die Veröffentlichung des Kinderbuchs in Ungarn eine starke Reaktion vonseiten rechter Politiker:innen aus. Die Regierung unter Viktor Orbán schränkt schon lange die Rechte der ungarischen LGBTQI*-Community ein – nach der Publizierung von „Märchenwelt für alle“ wurde eine Ausgabe des Buches sogar öffentlich zerstört. Im eigenen Land verboten, feiert das Kinderbuch im Ausland große Erfolge, so wurde es im vergangenen Jahr von „White Ravens“ aufgenommen, einer Empfehlungsliste für internationale Kinder- und Jugendliteratur. Und das zu Recht: Die Märchensammlung zeigt jungen Leser:innen, dass sie ihre Identität ungeachtet herrschender Normvorstellungen ausleben dürfen, sich nicht verstellen müssen und durch ebendiese Einstellung zur Auflösung überholter Stereotype beitragen. Das Buch lehrt Toleranz, Selbstakzeptanz, Mut und Mitgefühl und portraitiert erfrischend neue Rollenbilder, an denen Kinder sich orientieren und in denen sie sich wiederfinden können.
Boldizsár M. Nagy (Hrsg.): Märchenland für alle | Aus dem Ungarischen von Christina Kunze, Tünde Malomvölgyi und Timea Tankó | Stern (Gruner + Jahr) | ab 6 Jahren | 180 S. | 16,95 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25