Als ihr Vermieter (Sahin Eryilmaz) in der Wohnung steht und lautstark die fällige Miete fordert, starrt Marija (Margarita Breitkreiz) nur apathisch in den Raum. Dann geht sie entschlossen auf den aufgebrachten Cem zu, kniet sich vor ihm hin und macht den Reißverschluss seiner Hose auf. Schnitt: Das Ejakulat wird ins Waschbecken gespuckt, die Miete scheint beglichen zu sein. Bezahlen kann sie nicht, denn in dem Dortmunder Hotel, in dem sie für vier Euro die Stunde als Reinigungskraft jobbt, wurde sie fristlos gekündigt. Dabei war die Ukrainerin nach Deutschland gekommen, um sich Geld an die Seite zu legen für ihren großen Traum: Ein eigener Friseursalon in der Dortmunder Nordstadt. Dafür bleibt sie kalt und kompromisslos: Um sich den Wunsch eines eigenen Ladens zu erfüllen, geht sie auch Verhältnisse mit Männern ein – erst mit ihrem Vermieter, später mit dem Bauunternehmer Georg (Georg Friedrich), der eine Knastvergangeheit hat und krumme Deals mit osteuropäischen Geschäftsleuten abzieht. Es geht ums Überleben, ums Geld, die Gefühle stehen hinten an.
„Marija“ wurde fast komplett in der Dortmunder Nordstadt gedreht. Dort, im Roxy Kino, feierte das Sozialdrama am 22. Februar in Anwesenheit von Regisseur Michael Koch und den HauptdarstellerInnen Margarita Breitkreiz und Sahin Eryilmaz auch NRW-Premiere. Dass Regisseur Michael Koch Handlung wie Dreharbeiten in der Dortmunder Nordstadt, die als sozialer Brennpunkt gilt, ansiedelte, war keine Selbstverständlichkeit. „Du kannst überall in Dortmund drehen. Nur nicht hier“, wurde ihm gesagt. Doch die Entscheidung war richtig. So setzt er die Nordstadt nicht nur als Kulisse in Szene – auch die Bewohner der Nordstadt waren als Komparsen oder Nebendarsteller eingebunden und auch bei der Premiere anwesend: „Für mich war das kein Film über sondern mit den Leuten“, erzählt der Schweizer. „Ohne die Beteiligung der Menschen wäre es nicht möglich gewesen, diesen Film zu machen. Es wäre sonst ein ganz anderer geworden.“
Kochs Debütfilm inszeniert die Nordstadt als pulsierenden Schmelztiegel: Tagelöhner, Armut, Überlebenskampf. „Marija“ erinnert an das proletarische Klassenkampf-Kino von Ken Loach oder die moralphilosophischen MalocherInnen-Schicksale der Dardenne-Brüder.
Und doch ist „Marija“ vor allem auch eine Charakterstudie, eine neoliberale Verhaltenslehre der Kälte, die sexistische Macht- und Ausbeutungsverhältnisse darstellt. Getragen von den HauptdarstellerInnen: Neben dem großartigen Georg Friedrich (zuletzt auf der Berlinale ausgezeichnet) ist es vor allem Margarita Breitkreiz, die eine mutige, starke, aber auch kompromisslose Frau spielt. Eine Darbietung, die an Hanna Schygullas Figur der Maria Braun in Fassbinders Kultfilm erinnert: Eine verkörperte Verdrängung von Gefühlen für das Erreichen von Wohlstand. So kühl, so präzise haben sich seit Fassbinder nur wenige auf der Leinwand an das herangetastet, was sich da als gebrochene Existenz durch den kapitalistischen Überlebenskampf windet. Geld essen Seele auf. Großes sozialkritisches Kino.
Nur wenige Szenen versprühen einen Hauch von Heiterkeit: Als Georg ihr einen Batzen Geld zustecken will, sagt Marija stolz: „Ich will keine Geschenke“. Kurz überlegt sie: „Aber verdient habe ich's“. Sie steckt das Geld ein und macht große, traurige Augen – wie so oft in diesem Film. Was sie fühlt, was sie empfindet? Man kann es nur erahnen. Doch was zählt das schon in dieser Welt?
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