Es ist ein schleichender Prozess, aber irgendwann wird er einem doch bewusst: Man liest kein Buch mehr, das auf Papier gedruckt ist. Einst beschwichtigten wir uns noch damit, dass halt weniger gebundene Bücher gekauft würden und die Leser einfach nur das Medium hin zum E-Book wechseln würden. So ist es aber nicht, das E-Book kam nie so recht auf die Beine und dümpelte bei maximal zehn Prozent des Verkaufs dahin. Was macht es schon für einen Unterschied, ob man Texte auf Papier oder am Bildschirm liest? Dann jedoch kam vor fünf Jahren der große Einbruch: 6,4 Millionen Leser gingen dem Buchhandel hierzulande unwiderruflich verloren.
Woran liegt es, dass die Menschen keine Bücher mehr auf Papier lesen? Im Grunde ist es kein Mysterium, Leseforscher ahnten es schon seit geraumer Zeit, darunter die amerikanische Kognitionsforscherin Maryanne Wolf in ihrem Buch „Das lesende Gehirn“ (Spektrum Akademischer Verlag 2009). Nun ist sie der Sache in ihrem Band „Schnelles Lesen, langsames Lesen“ noch genauer nachgegangen. Mit den digitalen Medien verändert sich unser Leseverhalten. Wir lesen schneller, ungeduldiger, suchen den Text nach zentralen Worten ab, fliegen über die Sätze und lassen die Augen am linken Rand zu den folgenden Abschnitten gleiten. Lesen wir einen Text in einem Buch, ist das nicht möglich, wir müssen den Formulierungen folgen, können aus dem Text nicht so eilig ein- und aussteigen. Das nervt, vor allem bei erzählender Literatur, Romanen und psychologisch verschachteltem Erzählen. Schon wird das Buch beiseitegelegt.
Jeder kann den Prozess bei sich beobachten: Dem Autor des Textes ging es dabei nicht anders als Maryanne Wolf. Nach häufigem Blick auf digitale Geräte fällt die Kontemplation für einen Text im Buch schwerer. Inzwischen sind die Konsequenzen des schnellen Lesens erforscht. Man kann einen digitalen Text schlechter erinnern, man ist nicht mehr bereit, längeren Satzkonstruktionen und damit komplexeren Denkvorgängen zu folgen. Über die Kontemplation erwerben wir jedoch Wissen, sowohl sachliches als auch emotionales, das sich als Erfahrung in einer Persönlichkeit akkumuliert und eine analytische Betrachtung der Wirklichkeit ermöglicht. Menschen, die ausschließlich an digitalen Geräten hängen, besitzen gar nicht die Zeit zur Analyse, folgen vorgefassten Meinungen und sind empfänglicher für Fake-News. Alles erforscht in umfangreichen Studien, aber letztlich auch nicht verwunderlich. Neil Postman war in den achtziger Jahren schon auf dem gleichen Erkenntnisstand. Man hat sich die digitale Rezeption eben gerne schön geredet. Anfang des Jahres noch empfahlen 130 Leseforscher in der sogenannten „Stavanger Erklärung“ dass „das Verständnis langer Informationstexte beim Lesen auf Papier besser ist als beim Bildschirmlesen“. Eine Nachricht, die aufhorchen lässt angesichts der fünf Milliarden, die in naher Zukunft in die Digitalisierung der deutschen Schulen fließen sollen.
Die Vorstellung, dass wir uns von beiden Medien das Beste herauspicken können, scheint einem Wunschdenken entsprungen zu sein. Das Gehirn arbeitet ökonomisch, dort wo viel Einsatz gefragt ist, ist auch die neuronale Vernetzung dichter. Beim Bildschirmlesen muss es schnell gehen, Entscheidungen sind gefragt. Das langsame Lesen verlangt Kontemplation, den Zustand vermag das Gehirn nicht wie einen Lichtschalter anzuklicken. Um wieder ins Bücherlesen zu kommen, braucht man Übung. Maryanne Wolf gelang das mit Abschnitten von 20 Minuten, in die sie ihre Lektüre einteilte. Nach einigen Tagen vermochte sie dann auch wieder einen Roman zu lesen. Wolfs Buch nimmt einen in neun Kapiteln an die Hand, es ist ebenso klar entwickelt wie inspirierend in seiner Diagnose geschrieben. Jeden Kulturpessimismus vermeidet die Amerikanerin und versprüht Optimismus, wenn sie über den Gewinn spricht, den uns das Lesen in einem Buch beschert.
Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen | Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg | Penguin Verlag | 304 S. | 22 €
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