So sehen seit vielen Jahrhunderten idealisierte Feldherren aus: straff im Rücken, von hoher Statur, ein waches Auge und ein mildes Lächeln. Kurt Masur kehrte mal wieder nach Köln zurück. Der einstige Gewandhauskapellmeister, der Dirigent der Wende, der Raum und Zeit für politische Diskussionen in Leipzig bereitstellte und der damit unmissverständlich klar machte, dass ein Konzerthaus ein Bürgerhaus sein sollte und kein affektierter Kunstpalast, dass dem Volke auch wichtig ist, was der Gewandhaus-Kapellmeister oder der Thomaskantor in weltlichen Dingen zu sagen haben – das ist natürlich über die lange Tradition und die betonte Bürgernähe dieser Leipziger Institutionen ein Spezialfall.
Masur hat damals Grenzen überschritten und wurde zu einer Wendefigur ohne Makel. Die stehenden Ovationen wollten nach dem Konzert kein Ende nehmen, obwohl im jüngsten Falle Dmitri Schostakowitschs „Leningrader“ nicht Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ blühen ließ oder ein zugegebener Brahmstanz ungarische Pfefferaromen versprühte: Verstärkt dieser bereits legendenhafte Überbau des Gutmenschen die Wirkung der Musik?
Masur blickt auf 82 reiche Lenze, mit persönlichen Höhen und Tiefen, das gehört dazu. Künstlerisch befindet er sich in der Wahl seiner Orchester auf dem absoluten Höhepunkt. Das wäre ein erster Punkt: Führungsstärke und riskantes Engagement in der „Friedlichen Demonstration“ ermöglichten in der Folge einen rasanten internationalen Karrieresprung. Die New Yorker schnappten ihn gleich für ihre „Philharmonic“, danach kam das „Orchestre National de France“, parallel leitete er das „London Philharmonic Orchestra“ – mit den englischen Elitemusikern gastierte er jetzt in der Kölner Philharmonie.
Schostakowitsch gebar seine 7. Sinfonie, genannt die „Leningrader“, während der Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen als Produkt des „Sowjetischen Realismus“ – die Funktionäre hörten Marsch und pathetischen Siegesgesang. Wenn Masur mit seinem englischen Orchester rund sechzig Jahre nach Kriegsende das Werk eines russischen Komponisten auf das Programm setzt, das offiziell den russischen Sieg über Hitlers Truppen vertonte, dann bietet er uns eine andere Lesart. Schostakowitsch hat in seinen erst 1989 veröffentlichten Memoiren manches korrigiert, auch zur „Leningrader“: „Ich trauere hier um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Stalin hat Leningrad zugrunde gerichtet. Hitler setzte nur den Schlusspunkt!“ Wer Heinrich Bölls Freund Alexander Solschenizyn auf seinem „Archipel Gulag“ besucht hat, weiß, was der Künstler meint.
Deshalb ist diese Musik zeitlos und immer gegenwärtig. Masur streckte die aufgeschlagene Partitur dem jubelnden Volk entgegen: Nicht ich bin es, die Musik trägt die Euphorie in eure Herzen. Es ist nämlich nicht der Sieg der russischen Truppen, der so aufpoliert im Finale der Sinfonie glänzt. Es ist der Sieg der Courage, der Wahrheit und der Menschlichkeit. Das bleibt Masurs aktuelle Botschaft.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Sinfonische Vollender
Gil Shaham in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 11/24
Aus Alt mach Alt
Tage Alter Musik in Herne 2024 – Klassik an der Ruhr 11/24
Weiblicher Beethoven
Emilie Mayers 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 10/24
Ein Himmel voller Orgeln
Zwei Orgelfestivals in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 10/24
Mit virtuoser Blockflötistin
33. Festival Alte Musik Knechtsteden in Dormagen und Köln – Klassik an der Ruhr 09/24
Nach François-Xavier Roth
Der Abgang des Kölner GMDs sorgt für Umbesetzungen – Klassik am Rhein 09/24
Barock und Filmmusik
Open-Air-Konzerte „Viva Italia!“ im Ruhrgebiet – Klassik an der Ruhr 08/24
Exotische Musik
„Sounds of Nature“ und „Diálogos de amor“ beim Niederrhein Musikfestival 2024 – Klassik am Rhein 08/24
Akademische Bürgernähe
Michael Ostrzyga dirigiert „Elias“ in Bergheim und Köln – Klassik am Rhein 07/24
Pop-Hit trifft düstere Rarität
Semesterkonzert an der RUB – Klassik an der Ruhr 07/24
Bruckners „verfluchte“ Neunte
„Von Herzen – Letzte Werke“ in Bochum – Klassik an der Ruhr 06/24
Mit Hochdruck bei der Arbeit
Die Orgelfeierstunden im Kölner Dom – Klassik am Rhein 06/24
Träume aus alten Zeiten
Zamus: Early Music Festival 2024 in Köln – Klassik am Rhein 05/24
Ungewünscht brandaktuell
Auftakt zum Klangvokal Festival Dortmund 2024 – Klassik an der Ruhr 05/24
Wiederentdeckt
Werke von Amerikas erster schwarzer Klassikerin in Essen – Klassik an der Ruhr 04/24
Orchester der Stardirigenten
London Symphony Orchestra in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 04/24
Blickwechsel in der Musikgeschichte
Drei Spezialisten der Alten Musik in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 03/24
Spiel mit den Elementen
Alexej Gerassimez & Friends im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 03/24
Temperamentvoller Sonntag
Bosy Matinée mit Asya Fateyeva und Gemma New in Bochum – Klassik an der Ruhr 02/24
Hellwaches Monheim
Das Rheinstädtchen punktet mit aktueller Kultur – Klassik am Rhein 02/24
Abenteuerliche Installation
„Die Soldaten“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 01/24
Keine Grenzen
Philharmonix in Dortmund und Düsseldorf – Klassik an der Ruhr 01/24
„Herrliche Resonantz“
Avi Avital in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 12/23
Mit Micky Maus am Dirigierpult
Elim Chan und das Antwerp Symphony Orchestra in Dortmund – Klassik an der Ruhr 12/23
Musik aus drei Jahrhunderten
Quatuor Modigliani in der Philharmonie Köln – Klassik am Rhein 11/23