Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
7 8 9 10 11 12 13
14 15 16 17 18 19 20

12.599 Beiträge zu
3.824 Filmen im Forum

Klaus-Dieter Brüggenwerth liest Böll
Foto: Ulrich Schröder

Mythos Ruhrgebiet

29. Juni 2017

Duisburg: Heinrich Bölls Blick aufs Revier – Lesezeichen 07/17

In der Regel am ersten Sonntag im Monat bietet das Lokal Harmonie in Duisburg-Ruhrort einen literarischen Leckerbissen samt Buffet auf Spendenbasis an. Mit dem Portrait „Im Ruhrgebiet“, das Nobelpreisträger Heinrich Böll 1957 verfasste, brachte der Duisburger Künstler Klaus-Dieter Brüggenwerth am 4. Juni eine historisch-literarische Rarität zu Gehör, die in dem vor 60 Jahren vom Fotografen Carl-Heinz Hargesheimer alias Chargesheimer produzierten Bildband „Im Ruhrgebiet“ zu finden ist. „Böll ist hinterher wohl nie wieder hier gewesen“, kommentiert der Vortragende einleitend.

Stets begleitet von einem „Unterton begrifflicher Sprödigkeit“, zeichnet der Kölner ein ungeschminktes Bild von der grauen Realität vor einem halben Jahrhundert: „Es riecht nach Macht – denn Kohle und Stahl sind Macht.“ Jede vierte Großstadt hatte bereits damals ihren Platz in der noch heute am dichtesten besiedelten Region Deutschlands, und seit Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts war die Bevölkerungszahl hier ums 15-fache gestiegen, während sich die Einwohnerzahl andernorts im Lande im gleichen Zeitraum lediglich verdreifacht hatte. Heinrich Böll charakterisiert die Industrielandschaft, in der „ganze Gebirge unter Tage bewegt“ wurden, als „Welt ohne Frauen“, „schwarz von Kolenstaub“. Immer wieder nimmt der Autor eine differenzierte Außenperspektive ein, indem er der Sicht des Fremden, der die ‚Ruhris‘ für „Verlorene“ hält, eine „giftige Sentimentalität“ gegenüberstellt, die er bei diesen diagnostiziert. Die bereits 1957 einsetzende erste „Kohlekrise“ samt Zechensterben hingegen spielt in Bölls Text keine Rolle.

Eine kritische „Strukturdebatte“ kam vielleicht auch bei der Lesung ein wenig zu kurz – so etwa der auch aus Veranstaltersicht naheliegende Abgleich mit gegenwärtigen Entwicklungstendenzen in der postindustriellen Gesellschaft der Ruhr-Region. Eine interessante Parallele ist jedenfalls, dass Arbeitskräfte bereits in den 50er Jahren aus den Reihen Geflüchteter rekrutiert wurden, die damals vor Krieg und politischer Willkür hierher geflohen waren. Im Steinkohle-Bergbau werden diese künftig jedoch sicherlich nicht mehr arbeiten.

ULRICH SCHRÖDER

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Ein Minecraft Film

Lesen Sie dazu auch:

Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25

Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25

„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25

Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25

Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25

Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25

Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25

Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25

Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25

„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25

Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25

Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25

Literatur.

HINWEIS

Diese Website verwendet anonymisierte Cookies, um bestmögliche Funktionalität zu gewährleisten.
Mehr informationen
ladend