Essen, 1.3. – Es hätte so viel schief gehen können: In sage und schreibe fünf Jahren Arbeit am Drehbuch hätte der erste bundesdeutsche Film über Karl Marx zu einem spröden Stück verfilmter Geschichtsunterricht werden können, selbstverständlich ideologisch geglättet und unangreifbar. Oder zu einem nicht minder spröden Stück Geschichtsklitterung, einem billigen Bio-Pic mit Liebeskitsch statt Klassenkampf. Doch nichts dergleichen: Raoul Pecks „Der junge Karl Marx“ umschifft geschickt sämtliche Untiefen des schwierigen anspruchsvollen Stoffes und feierte nun, nach der Uraufführung auf der Berlinale, offiziell Premiere in der Lichtburg in Essen. Zu Gast: Die Hauptdarsteller August Diehl (Marx) und Stefan Konarske (Engels) und Raoul Peck, Mit-Drehbuchautor, Regisseur und Co-Produzent, sprich: das Mastermind hinter dem Mammutprojekt.
Der Film beginnt nicht in der Hölle der Fabriken, sondern in dunklen deutschen Wäldern, gleichsam vor der industriellen Revolution – und endet mit Bob Dylans „Like a Rolling Stone“. Erzählt wird dazwischen die Geschichte eines jungen Querkopfes, von Marx’ Exil in Paris bis zum Verfassen des Manifests der kommunistischen Partei. Ob der Film der marxistischen Theorie gerecht wird, von welcher der Zuschauer in Form von kurzen Zitaten kosten darf, sollen andere beurteilen. Entscheidend ist, dass Peck hier einen neuen Marx entwirft, „ohne den Bart“ (O-Ton Peck) und ohne Dogmatismus, eher vom Typus gescheiterter Schriftsteller als kämpferischer Revolutionär. Ein Kämpfer, ja: aber ein Kämpfer des Geistes. Was den jungen Marx anficht ist die Liebe zum freien Wort, weniger das Mitleid mit den Proletariern, für deren Hang zu falschen Propheten er nur Spott übrig hat. Den empathischen Part übernimmt Engels: Der Fabrikantensohn kennt das Leid der Weberinnen und die Unbarmherzigkeit der ersten Kapitalisten aus nächster Nähe.
Eine europäische Geschichte
„Marx war kein Dogmatiker. In der russischen Revolution wäre er sicher einer der ersten, die man erschossen hätte“, sagt Raoul Peck. Sein Bild des Revolutionärs des Geistes hat er, wie er im Anschluss an die Filmvorführung berichtet, nicht aus den offiziellen, meist sehr didaktisch gehaltenen Biographien gewonnen – sondern aus den persönlichen Briefwechseln von Marx und Engels selbst. „Da haben wir die echten Menschen entdeckt, mit ihrem Humor, ihrer Ironie und ihrer Sprache“, so Peck. Besonderen Eindruck machte auf ihn der kosmopolitische Geist der beiden: So wechselten sie in ihren Briefen leichtfüßig zwischen Englisch, Französisch und Deutsch, Sprach- und Ländergrenzen bedeuteten ihnen genau so wenig wie Schranken des Denkens. Deshalb sehe er „Der junge Karl Marx“ nicht als deutschen oder französischen, sondern als einen europäischen Film.
Das passt, wurde der Film schließlich mit Mitteln aus Frankreich, Belgien und Deutschland finanziert. Die Deutschen, verrät Peck, seien mit der Unterstützung aber zunächst etwas zögerlich gewesen. „Man kann Marx nicht ohne Stalin machen“, so ein Einwand. Kann man so sehen – denn die Geschichte dessen, was sich Kommunismus nennt, führte eben noch nicht zur klassenlosen Gesellschaft, dafür aber in den einen oder anderen Gulag.
Pecks Film arbeitet sich zwar nicht an all den historischen Folgen des Marxismus ab, sie werden nicht einmal angedeutet. Doch eben darin besteht das große Verdienst dieses Films: Er stößt den alten Marx (den mit dem Bart) vom Sockel und stellt einen neuen, jungen Marx an diese Stelle. Das wird diesem großen Denker eher gerecht, als sich an seinen Möchtegern-Apolegeten von hinter der Mauer abzuarbeiten. Geschichte ist nunmal eine Geschichte von Kämpfen. Auch Kinogeschichte.
Ab heute (2.3.) ist „Der junge Karl Marx“ im Kino zu sehen.
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