Gewöhnlich passiert es nicht, dass Lesungen anspruchsvoller Belletristik lange Anstellschlangen verursachen. Vor allem, wenn sie dann noch in einer Kirche stattfinden. Aber an diesem frühen Abend sitzt der Schriftsteller Robert Menasse wenige Minuten vor der Veranstaltung noch auf der Bank vor der Christuskirche und kann bei einem Glas Wein bestaunen, wie Jung und Alt in den Saal drängen. Dieser ist auch fast bis in die hinteren Bänke gefüllt, als Menasse auf die Bühne tritt. Das beeindruckt den Wiener wohl so sehr, dass er erst mal sein Smartphone zückt, um ein Foto vom Publikum zu schießen.
Ja, sein Roman „Die Hauptstadt“ zieht: gefeiert in den Feuilletons, ausgezeichnet mit dem deutschen Buchpreis – Menasses EU-Epos scheint so was wie der Roman zur rechten Zeit zu sein. Denn während ein Aufleben des Nationalismus das Projekt der Europäischen Union so stark wie noch nie gefährdet, schnürte Menasse in seinem Werk verschiedene Handlungsstränge zu einem Kaleidoskop der EU-Hauptstadt zusammen, das getrost als politisches Plädoyer, ja als Manifest begriffen werden kann.
Daraus machte der Schriftsteller auch aus seinem Auftritt in Bochum keinen Hehl. Im Gegenteil: Schon bei seiner Lesung stellt er nicht nur den komplexen Erzählstrang vor: Die Protagonistin Fenia Xenopoulou, eine Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, soll das schlechte Image der Kommission aufpolieren. Dazu beauftragt sie den Referenten Martin Susmann, anlässlich des Jubiläums der Kommission eine Idee zu entwickeln. Er will Auschwitz als Gründungsmotiv der EU in Erinnerung rufen. Und darum geht es auch Menasse an diesem Abend. Er gestikuliert und zuckt nicht nur lebendig, während er aus seinem Buch liest, als würde er die Dialoge szenisch aufführen. Den Kontext, die Erfahrung von Auschwitz als Gründungsort der EU verteidigt er vor Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (SPD) und anderen ausgewählten Gästen wie ein Aufklärer alten Schlages.
„In Auschwitz hat sich gezeigt, zu welchen Verbrechen der Nationalismus fähig ist. Dort hat er seinen radikalsten Ausdruck gefunden.“, sagt der 63-Jährige. „Danach öffnete sich ein Fenster, in dem etwas entstand, das bis dahin unmöglich war: ein Projekt, um diesen Nationalismus zu überwinden.“ Versprechen und Katastrophe seien daher gleichermaßen in Brüssel verschlungen, eine Stadt, die Menasse trotz aller bürokratischen Auswüchse wie ein Aufklärer als einen einmaligen Ort bezeichnet, in dem erstmals die politischen Fäden jenseits nationaler Grenzen zusammenführen.
„Die Hauptstadt“ ist das literarische Plädoyer zu diesem europäischen Einigungsprojekt. „Jeder Autor will mit seinem Romanen etwa Essenzielles seiner Lebenszeit erzählen“, sagt Menasse. Daher erzählt er von einem historischen Prozess, der gefährdet ist, von nationalen Hardlinern, aber auch von politischer Ignoranz. Menasse zitiert Balzac: „Erzähle so, dass deine Zeitgenossen sich erkennen, und spätere uns verstehen.” Denn bekanntlich stellte der französische Autor im 19. Jahrhundert das Panorama einer Gesellschaft dar wie kein anderer. Balzac fing ein, was bereits im Begriff war, unterzugehen. Menasse verteidigt das Gefährdete dagegen als politischer Autor.
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