Er ist ein Junkie der Klassischen Musik, so betont Sir Simon Rattle gern. Und dem smarten Briten darf eine Sucht nach neuen musikalischen Erfahrungen und Auseinandersetzungen unterstellt werden. Seit zehn Jahren lenkt er den Rolls Royce bzw. den Maybach unter den Orchestern, das „berühmteste“ Orchester der Welt. Ein Titel, den der theatralisch-selbstdarstellerische Herbert von Karajan über Jahrzehnte gepflegt und gefestigt hat – „Berliner Philharmoniker“ klang damals nach heroisch-erdigen Tönen in der Männerdomäne der „Ernsten Musik“. Das änderte der Charmingboy aus Liverpool so grundlegend wie überhaupt möglich – die Berliner mutierten zu weltoffenen multikulturellen Popstars des Klassikmarktes, zu Kinohelden und Jugendverstehern, zu Pionieren im Experimentieren mit Alter und Neuer Musik. Der Maybach ging im vergangenen Sommer sang- und klanglos unter, und die schöne aufregende Liaison zwischen den Berlinern und ihrem Sonnenschein von der regnerischen Insel neigt sich ebenfalls einem Ende zu – aber mit Paukenschlägen und Trompeten.
In fünf Jahren, so meldete der umsichtige Stardirigent Rattle jetzt schon mal vorab, werde er sich vom Sitz des Chefdirigenten zurückziehen wollen. „Ich liebe dieses Orchester und habe auch deswegen den Musikern meinen Entschluss so früh wie möglich mitgeteilt“, sagte Rattle und hing in Bezug auf sein 2018 erreichtes Alter noch an: „Als ein Liverpudlian kann man diesen besonderen Geburtstag nicht ohne die Frage der Beatles: Will you still need me, when I‘m 64? begehen!“ Jetzt benötigen die Berliner ihren beliebten Chef in jedem Falle, nach dem österlichen Abzug aus der Karajan-Hochburg Salzburg an die Oos in Baden-Baden stehen alle Hebel auf Neustart. Da werden einige Stammgäste von der Salzach in das schon von Clara Schumann und Johannes Brahms so sehr geschätzte Kulturbad nachziehen.
Selbst fünf Jahre Suchzeit lassen aber die Nachfolgefrage nicht leichter werden. Wenn der in aller Welt meistgeliebte und so gar nicht selbstverliebte Sir die Segel streicht, lässt sich auch mit Feuerkopf-Dirigenten wie Gustavo Dudamel zwar ein Generationenwechsel herbeiführen, wie ihn auch Rattle seinem Orchester bewusst vermitteln will, aber die Popularität und Solidität eines Simon Rattle ist einfach nicht ersetzbar.
Die New Yorker Philharmoniker, das älteste amerikanische Orchester, hat die Nachfolge nach den beiden Weisen Masur und Maazel praktisch mit einem Eigengewächs gelöst – Chefdirigent Alan Gilbert ist der Sohn zweier Orchestermitglieder. Wie gut also, dass mit der Diskussion um die Klarinettistin Sabine Meier Anfang der 80er Jahre auch Frauen bei den Berlinern spielen dürfen.
Die Freunde des Erfolgsgespanns Rattle/Berliner sollten also jetzt bereits beginnen, den Abschied einzuläuten und die seltenen Gelegenheiten nutzen, wenn das Dreamteam an der eigenen Heimadresse vorbeischaut. In Essen servieren die Musiker ein reizvolles Programm aus der Romantik (Schumann) mit französisch-polnischen Übersetzungen in die Klangwelt der Neuzeit (Dutilleux, Lutoslawski): Besonders „Métaboles“ ist ein echter Knaller.
24.2., 19 Uhr I Philharmonie Essen I www.philharmonie-essen.de
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