Essen, 24. Juli – Regisseur Dominik Graf gilt nicht als der große Showman der Branche, er hat aber einen Ruf als ausgesprochener Filmliebhaber. Zügig marschierte er daher wenige Minuten vor der NRW-Premiere seines aktuellen Filmes „Die geliebten Schwestern“ über den roten Teppich in die Lichtburg Essen. Er huschte fast so unauffällig vorbei, dass zwei Schaulustige aus dem dem Café nebenan einander zuflüsterten: „Wer ist das denn? Gehört der auch dazu?“ Der mit zahlreichen Film- und Fernsehauszeichnungen und zehn Grimme-Preisen dekorierte Graf gönnte die Aufmerksamkeit von Publikum und Presse lieber seinen anwesenden Schauspielern.
Neben dem Friedrich-Schiller-Darsteller Florian Stetter war mit Henriette Confurius nur eine der geliebten Schwestern anwesend. Confurius strahlte dafür gleich für die verhinderte Hannah Herzsprung mit und weckte mit ihrer fragilen und schüchternen Mädchenhaftigkeit viele Sympathien. Geduldig positionierte sie sich für Autogrammjäger und Pressefotografen, lächelte mal mit, mal ohne Stetter, der fast wie ein Beschützer nicht von ihrer Seite wich, in alle Richtungen. Der Andrang war wie bei allen Premieren in dem altehrwürdigen Filmpalast nicht gering.
Angesichts der Massen, die sich wenige Meter weiter am Burgplatz um den Glaskasten des Pro7-Experiments „We Are Watching You“ tummelten, musste einem Cineasten die Verteilung aber doch absurd erscheinen. Während hier echtes Kino mit deutschen Topschauspielern zum Greifen nah war, forderten dort die Schaulustigen ihre Warholschen 15 Sekunden Ruhm ein, indem sie eifrig in die Fernsehkameras winkten.
Die Premierenvorführung bot dagegen eine angenehme Auszeit und eine Reise in eine Vergangenheit vor Überwachungswahn und NSA-Skandal. Vor einem gut gefüllten, wenn auch nicht gänzlich ausgelasteten Saal kündigte Produzentin Uschi Reich sichtlich gerührt „den Liebesfilm des Sommers“ an, bevor sich auf der Leinwand Grafs neues Werk entfaltete.
Die im Film dargestellte Dreiecksbeziehung basiert nur sehr lose auf historisch im wahrsten Wortsinn verbrieften Fakten. Was der ohnehin kaum erhaltenen Briefkorrespondenz zwischen Schiller und den Schwestern Charlotte (Henriette Confurius) und Caroline von Lengefeld, spätere von Beulwitz (grandios: Hannah Herzsprung) ohnehin nicht hätte entnommen werden können, sind die heimlichen Gefühle und emotionalen Achterbahnfahrten. Diese dürften dieser komplizierten Dreiecksbeziehung – sollte es sie in dieser Form gegeben haben – durchaus innegewohnt haben. Die Qualen von Liebeslust und -frust transportieren die fabelhaften Darsteller in nuancierten Dialogen oder verstohlenen Blicken. Der historische Kontext flackert mit ästhetischen Bildern von Buchdruckverfahren, dem Frauenverbot an Universitäten oder der Französischen Revolution gelegentlich auf. Sprache, Kostüme und Bildkompositionen des in Thüringen und Sachsen, aber auch im Münsterland entstandenen Films, vermitteln ein gutes Gefühl der damaligen Zeit.
So wie die Französische Revolution bald nach 1789 ihre Kinder fraß, wird auch die Utopie einer gleichberechtigten Liebe voller Altruismus und ohne Eifersucht und Eigennutz im letzten Drittel massakriert. Interessant ist, dass Graf die Komplikationen weniger auf die Konventionen der Zeit, sondern auf unser menschliches Wesen zurückführt. Das Herz will eben was das Herz will. Sein Kostümfilm ist bei aller Opulenz in erster Linie ein Film über Beziehungen sowie die Liebe an sich und so ein sehr modernes Werk, dass die letzten drei Jahre im Leben Schillers dezent ausblendet und so doch wieder Raum für Illusion lässt, bevor der Sprung in die Gegenwart erfolgt.
Nach dem Abspann ließ Graf seinen Blick durch den wunderschönen Saal schweifen und offenbarte: „Hier wollte ich immer mal hin in die Lichtburg, mit einem großen Film.“ Wer Deutschlands größtes und unter Denkmalschutz stehendes Lichtspielhaus kennt, versteht Graf gut. Unter langanhaltendem Applaus holte er danach nicht nur seine Schauspieler, sondern vom Tonassi bis zum Redaktionsleiter alle anwesenden Teammitglieder auf die Bühne. Claudia Messner, die ihre Rolle als rabiate Mutter von Charlotte und Caroline mit schroffem Charme füllt, erhielt als heimlicher Star des Films neben Stetter und Confurius zu Recht den intensivsten Beifall.
Die Lichtburg entließ anschließend ein berührtes Publikum in die Nacht, während am Burgplatz noch immer der Glaskubus belagert und wild gestikuliert wurde, um die Gunst der Kameras für einen Moment zu erhaschen. Die Faszination an Friedrich Schiller und seinem Leben dauert nun schon seit zwei Jahrhunderten an. Und das, obwohl es damals noch keine Kameras gab.
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