Einen Volltreffer hat Lukas Vogelsang mit seiner szenischen Lesung im Rottstr5-Theater gelandet: Bis auf den letzten Platz ausverkauft war das Haus am 5. August, als die Premiere der dramatischen Miniatur „Das Tagebuch von Edward dem Hamster 1990 – 1990“ (Fischer) aus der Feder der Geschwister Miriam und Elia Ezra auf dem Programm stand. Wie aus einem Guss präsentierte sich das Zusammenspiel von Text und Ton, Licht und Schatten, um die kurze Vita des Protagonisten spektakulär und einfühlsam zu inszenieren. Der wirft in seinem kurzen Hamsterleben nicht nur philosophische Fragen („Existieren – warum?“) auf und grübelt über die Sinnlosigkeit der ewigen Kreisfahrt im Hamsterrad, sondern begehrt aktiv gegen die Tyrannei des Rades auf, indem er sich zeitweilig entschließt, es nicht mehr zu benutzen und gar in einen minutenlangen Hunger- und Durststreik zu treten. Doch auch bei der den Käfig stets bedrohlich umschleichenden Katze fällt Edwards revolutionäre Erkenntnis, „dieses System“ müsse „zerschlagen werden“, nicht auf fruchtbaren Boden. So trage die „hirnlose Kreatur“ ein „Gefängnisgitter in ihrem eigenen Kopf“ und erweise sich somit als unfähig, die „Ketten unserer Unterdrückung“ abzuwerfen. Eine leiernde Version der „Internationalen“ tut ihr übriges, um die politische Stagnation im Hamsterkäfig zu untermalen.
Titelgebende Assoziationen wie die des Post-Wende-Jahres 1990 – dem vielleicht einzigen, in dem die Ostdeutschen ihre latent neu gewonnene Freiheit selbst hätten gestalten können – liegen auf der Hand. Auch die Einquartierung eines männlichen Zweithamsters (Wolf – ein Wessi?) kann an der revolutionsabstinenten Agonie nichts ändern – im Gegenteil: Edward rastet aus, als der Neuankömmling unablässig das Rad benutzt und plant daher einen Anschlag auf die Mechanik des Räderwerks. Als Wolf plötzlich den Erstickungstod erleidet und durch einen weiblichen Hamster, die Künstlerin Camilla, ersetzt wird, keimt noch einmal Hoffnung auf, die es „ohne Liebe“ nicht geben könne, so die finale Erkenntnis. Fünfmal wird Vogelsang nach der Lesung für seine reife schauspielerische Leistung zurück auf die Bühne applaudiert – chapeau!
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Eine Kindheit im Krieg
„Das große Heft“ im Bochumer R5-Theater
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25