Für manchen frommen Kirchenmusiker steigt hier der Leibhaftige persönlich über die Königin der Instrumente. Cameron Carpenter heißt das erschreckende Wesen. Zum Konzert an der Orgel erscheint er im weißen hautengen Trikot wie ein Olympionike der Eisbahn. Statt der goldschwangeren Kufen zieren selbst entworfene und von Hand gebastelte Tanzschuhe die Füße des Musikers, der das Orgelspiel revolutionieren will wie einst der Punkgeiger Nigel Kennedy die Auftrittsriten klassischer Geigenvirtuosen. Und auch verbal spricht Carpenter Klartext: „Wir haben zu lange die Aggressivität der Orgel ignoriert, ihre Sexualität und Sinnlichkeit!“ Schockierende Sprüche, peinlich deplatzierte Wäsche, das alles riecht nach einem großmäuligen Selbstdarsteller, einer Tagesfliege im Blitzlichtgewitter. Aber das ist Cameron Carpenter ganz sicher nicht – er kommt nur von einem anderen Stern.
Die Weichen für die künstlerische Entwicklung dieses jungen Mannes waren einzigartig gestellt. Mit fünf Jahren begann der Knabe im ländlichen Pennsylvania mit dem Stepptanz. Gleichzeitig malträtierte er mit seinen kurzen Fingern eine alte Jazzorgel der Marke Hammond B3, die im Ofengeschäft seines Vaters stand: Hier hämmerte er die Tasten gegen den Lärm, den die Schläge und Sägen der Ofenbauer erzeugten. Die B3 besitzt wie eine richtige Kirchenorgel ein sogenanntes Vollpedal. Und der kleine Carpenter verquickte Stepptanz und Fußbass-Spiel zu einer sehr ungewöhnlichen technischen Disziplin: zum Tanz auf den Tasten.
Heute umfasst das tägliche Aufwärmtraining Yoga und Pilates, direkt vor dem Konzert verordnet er seiner Handmuskulatur zur Auflockerung drei Dutzend Liegestützen. Den erhöhten Kalorienbedarf deckt eine Gallone Vollmilch, das entspricht beinahe vier Litern – über den Tag verteilt. Sein Auftreten, das krasse Gegenbild eines verhuschten Kirchendieners, entspricht der männlichen Antwort auf Iveta Apkalna, dem baltischen Orgelmodell mit den schönen und ebenfalls schnellen Beinen. Aber Carpenter verändert nicht nur das äußere Erscheinungsbild des Orgelkünstlers. Seine Interpretationen sprengen bekannte Dimensionen, gängiges Repertoire und manchmal die bearbeiteten Instrumente selbst.
So zerfetzte sein Spiel eine mehrere Millionen teure Orgel in Philadelphia. Der Meister hatte sie gestraft für ihr untätiges Sein ohne tägliches Training. Denn – so Carpenter im O-Ton: „Dann wird sie fett! Sie wird alt, langsam und dumm!“ Am besten hilft eine Schocktherapie, sprich: eine Behandlung mit Originalarrangements des Organisten. Als „alptraumartige Zirkusmusik“ oder als „Panik-Attacke“ beschreibt der Komponist Carpenter seine Bearbeitungen geliebter Werke wie Mozarts „Rondo alla turca“. Sein jetzt in Köln uraufzuführendes Werk op.3 trägt die Warnung im Titel, „Der Skandal“. Wundersamer Kontrast zu all diesen superlativen Sonderheiten: Auch dieses Stück erscheint später im höchst angesehenen Verlag „Edition Peters“, und seine Agentur für Europa zählt zu den seriösesten Vermittlern klassischer Interpreten. Der „Bad Boy“ der Orgelkunst ist nämlich eigentlich ein Guter – nur etwas gewöhnungsbedürftig!
Konzert mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen I 1.1., 18 Uhr
Kölner Philharmonie I www.koelner-philharmonie.de
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