Den Passanten stockt der Atem, als Jay Donn sich ohne zu zögern über das Geländer einer gut vier Meter hohen Plattform schwingt. Einen Augenblick später steht er in der Menge, selbstsicher grinsend läuft er weiter. In der nächsten Sequenz baumelt er von einer Brücke, hangelt sich an den Stahlbalken entlang, sein Gewicht tragen die dünnen Arme. Jay ist Stuntman, doch seine Leidenschaft liegt im Tanz: Er ist einer der Wegbereiter des Flexing, eines New Yorker Tanzstils, dessen Anblick gleichermaßen beeindruckt und abstößt.
In Kooperation mit dem Endstation Kino zeigte die Goldkante am 19. Februar den Dokumentarfilm „Flex Is Kings“ von Deidre Schoo und Michael Beach Nichols. Im Rahmen ihres durch Crowdfunding finanzierten Projektes begleiteten die Filmemacher über einen Zeitraum von zwei Jahren die Pioniere der Szene. Geprägt wurde der Tanzstil Flexing auf den Straßen des New Yorker Viertels Brooklyn. In herausfordernden, kämpferischen Bewegungen verarbeitet eine stetig wachsende Gemeinde ihre Frustration über Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Armut und Kriminalität. Begleitet werden Teilnehmer und Gründer des Flexing-Tanzwettbewerbs „Battlefest“ während ihrer Vorbereitungen auf das große Event.
Der Stuntman im Ballett
Jay Donn, einer der Protagonisten des Films, zeigt sich extrovertiert und furchtlos. Seine Tanzperformances präsentiert er auf der Straße, vor ungewöhnlichen Requisiten wie Häuserdächern schreckt er nicht zurück. Durch seine Arbeit als Stuntman kann er waghalsige Sprünge in sein Programm integrieren. Während der Dreharbeiten erhält er eine Einladung von BalletNext, einer bekannten New Yorker Balletformation, und bekommt die Chance, als Pinocchio mit dem Ensemble aufzutreten. Dabei muss sich Jay, der es gewohnt ist zu improvisieren, auf die Choreografien und den klassischen Stil des Teams einstellen. Mit hölzernen Bewegungen und Flexing-typischen Kontorsionen, die abseits der Grenzen Brooklyns weitgehend unbekannt sind und auf große Aufmerksamkeit stoßen, darf Jay als Pinocchio schließlich bei einem Festival in Schottland auftreten. Leider widmen die Filmemacher Schoo und Nichols ihm nicht die verdiente Aufmerksamkeit. Sein Alltag, seine Motivationen und seine Träume werden unzureichend thematisiert, sodass er am Ende lediglich ein Tänzer ist, der den Sprung von der Straße schafft – dabei aber wenig Anteilnahme erhält, da der Zuschauer ihn schlichtweg nicht kennenlernen durfte.
Der Titelverteidiger
Intensiver beschäftigen sich die Regisseure mit dem stämmigen Flizzo, welcher sich in seinem Leben zwischen Bühne und Alltagstrott bewegt und darunter sichtlich leidet. Flizzo kennt die Flexing-Szene wie kaum ein anderer, hat er sie doch selbst entscheidend geprägt. Seine Kernkompetenz, kleine und große Sensationen in seinen Tanz einzubauen, brachte ihm den Titel beim Battlefest ein und machte ihn zum Vorbild für viele Nachwuchstänzer. Berühmtheit erlangte Flizzo durch einen Auftritt, bei dem ihm ein Zebrafink aus dem Mund flog. Seitdem versucht er, sein Publikum mit neuen und spektakulären Besonderheiten für sich zu gewinnen. In der Szene ist Flizzo ein Star – wenn er nach Hause kommt, sieht er sich mit Arbeitslosigkeit, einer sanierungsbedürftigen Wohnung, einer komplizierten Beziehung und einem kleinen Kind konfrontiert. Sein Traum ist es, mit Flexing berühmt zu werden. Trotz des Einblicks in sein Leben bleibt seine Charakterisierung jedoch oberflächlich. Wie er zum Tanz kam und was ihn antreibt, bleibt unerwähnt.
Der Tanzcontest
Weitaus weniger Aufmerksamkeit wird Soup, der im Flexing seine von Gewalt geprägte Vergangenheit verarbeitet, und dem Battlefestgründer Reem zugesprochen. Letzterer scheint nur begleitet zu werden, um das Battlefest, welches schließlich zentraler Bestandteil des Films ist, vorzustellen. Dabei werden Probleme bei der Organisation am Rande erwähnt, die Idee hinter dem Wettbewerb wird beiläufig erklärt. Das Battlefest, so Reem, soll als Plattform für die jungen Leute Brooklyns dienen, die ihre Frustration und Langeweile für das Tanzen aufwenden sollen, statt sie in Gewalt zu entladen.
Der fehlende Tiefgang zieht sich durch den gesamten Film. Besonders der Tanzstil Flexing, welcher als Ausdruck von Kriminalität und Gewalt konkret mit der Situation im Osten New Yorks zusammenhängt, verlangt nach der intensiven Auseinandersetzung mit den Menschen, die aus ebenjener Gegend stammen und den Tanz praktizieren. Was der Film großartig meistert, ist die Darstellung der Tanzsequenzen. Leider reicht diese Qualität lediglich, um „Flex Is Kings“ neben „Step Up“ und ähnlichen Formaten unter der gern als „leichte Kost“ verschrienen Kategorie Tanzfilm einzuordnen.
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