Er ist ein Mann der Provinz und wie er in seiner im vergangenen Jahr erschienenen „Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien“ beweist, ausgewiesener Kenner tschechischer Lebensart. In seinem neuen Roman wendet sich der in den 1980er Jahren im sauerländischen Plettenberg aufgewachsene und mittlerweile in Leipzig und Prag lebende Martin Becker ausgerechnet dem Ruhrgebiet zu: Ein junger Mann kehrt zurück in sein früheres Elternhaus. Die verwitwete Mutter fristet in ihrem Sessel rauchend ein trostloses Dasein auf der Straße in die Demenz, eine Handvoll Fotos führen den jungen Mann weit zurück in die Vergangenheit, als das Herz aus Kohle und Stahl noch schlug, als Zechen rauer Alltag waren und noch nicht „Industriekultur“. Laut seiner offiziellen Biographie studierte Becker ein Jahr lang Germanistik und Philosophie in Bochum, bevor er zum Deutschen Literaturinstitut nach Leipzig wechselte. Dass sein Bezug zum Ruhrgebiet und insbesondere Bochum ein viel engerer ist, verrät er uns im Gespräch:
Für das Buch unter Tage
„Das Leben hat mich ja nun mal nach Leipzig verschlagen – und mittlerweile sogar nach Prag. Beide Orte mag ich sehr und ich möchte sie nicht mehr missen. Aber Heimat, das merke ich mit den Jahren immer mehr, ist halt irgendwie der Ruhrpott. Die Menschen dort. Die Sprache. Der Umgangston. Wobei ich es konkreter sagen müsste: Bei mir ist es ja schon eindeutig eine große Liebe zu Bochum. Und ich habe vielleicht wirklich seit dem Weggehen ziemlich lange gebraucht, um zu verstehen, wie tief diese Liebe eigentlich ist.“ Eine nicht unbedeutende Rolle kommt bei dieser Erkenntnis einem unlängst verstorbenen Bochumer Literatur-Original zu: „2002 habe ich zum Beispiel erstmals Texte von Wolfgang Welt gelesen. Konnte nichts damit anfangen. Viel später dann, so vor zwei, drei Jahren, da habe ich Buch um Buch von ihm verschlungen – und hab plötzlich was verstanden und was wiedererkannt.“ Dieses Wiedererkennen beruht allerdings auf weit tieferen Verbindungen als dem einjährigen Studium an der Ruhr-Uni, denn Beckers Eltern sind typische Revierkinder: „Mein Vater kam aus Bochum, meine Mutter aus Essen – in Bochum haben sie sich kennengelernt und waren zusammen, bis mein Vater 2008 verstorben ist. Der war Bergmann, und ich ärgere mich heute, dass ich ihn nicht viel mehr gefragt habe nach seiner Zeit auf dem Pütt. Aber ich habe ja versucht, das jetzt nachzuholen – und war für die ‚Marschmusik‘ in Bottrop unter Tage. Ich wäre viel zu ungeschickt und ängstlich für diese Arbeit, aber ich konnte mir sofort vorstellen, wie mein Vater da unten malocht hat – und wie er es geliebt haben muss.“
Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit?
Mit diesem Wissen im Hinterkopf drängt sich bei der Lektüre des Buches die Frage geradezu auf, die jeder Autor auf Lesungen und in Interviews fürchtet: „Was die Frage nach dem Autobiographischen angeht: Ich habe da keine Angst, ich rechne fest damit“, erläutert Becker, und er hat auch bereits drei Antworten parat, wie er dieser Frage begegnet: „Erstens, es steht "Roman" auf dem Buch, und das ist kein Zufall, an einem Punkt der Arbeit habe ich mich sehr bewusst dafür entschieden. Zweitens, natürlich, es hat viel mit meiner Autobiographie zu tun. Auch ich arbeite fürs Radio, das macht der Protagonist auch. Nur war ich niemals bei den Inuit und habe mich erst recht nie mit ihrer Sprache befasst, um mal ein Beispiel zu geben. Und der dritte Punkt, eine kleine Anekdote: So ein Buch wird ja vom Verlag juristisch geprüft im Blick darauf, ob lebende Personen sich auf den Schlips getreten fühlen könnten. Und bei einer Figur hatte der Verlag ein bisschen Sorgen – bei Hans Hartmann nämlich, letztlich der Schlüsselfigur des ganzen Romans. Aber da konnte ich sie gleich beruhigen: Mag sein, dass der Roman viel mit meiner Biographie zu tun hat – Hans Hartmann hingegen ist eine lupenreine Erfindung des Autors. Also, es ist für mich ein Spiel, durch und durch. Vielleicht stimmt ja jeder einzelne Satz in dem Buch? Vielleicht sage ich das sogar aus vollem Herzen und aus voller Überzeugung! Aber würdest Du einem Schriftsteller trauen, der über sein Buch sagt: Alles, aber wirklich restlos alles in diesem Buch hat sich so zugetragen und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass ich nur die Wahrheit schreibe?“
Immer wieder Bochum
Der Klappentext des Romans verspricht eine „Geschichte vom Erwachsenwerden (…) erzählt mit Leichtigkeit und Witz“. Wer jedoch nach einem Coming-of-Age-Roman im Tonfall von Frank Goosen sucht, dürfte hier enttäuscht werden. Becker räumt diese Assoziation auch sogleich beiseite: „Ich glaube, man kann die Ansätze nicht miteinander vergleichen. Und sollte das jemand tun in Besprechungen, dann würde der Vergleich arg hinken. Wir haben zwei vollkommen unterschiedliche Arten des Erzählens, Franks Perspektive ist total anders als meine Perspektive – bei mir geht es ja wirklich darum, sich den Blick auf das Ruhrgebiet nach Jahren der Abwesenheit zurückzuerobern. Und zu gucken: Was ist eigentlich noch übrig? Und was passiert, wenn dieses ganze Milieu bald weg ist?“ Hier offenbart Becker, dessen Blick „von außen“ kommt, einen gänzlich anderen Ansatz als Goosen, der getreu seinem Motto „woanders is auch Scheiße“ seiner Heimatstadt stets treu geblieben ist. „Außerdem könnte ich nie so schreiben wie Frank“, räumt Becker anerkennend ein, „der hat den Sound halt einfach drauf und ich mag das sehr – zuletzt habe ich ‚Förster, mein Förster‘ ziemlich schnell gelesen und war begeistert – so eine Komik wie bei Goosen wird es bei Becker wohl nie geben – da kann ich mich auf den Kopf stellen!“
Aber woher kommt nun wirklich Beckers Verbundenheit zu Bochum? Schließlich findet die offizielle Buchpremiere hier statt (noch vor seinem „echten“ Heimatort Plettenberg) – kombiniert mit einem musikalischen Leckerbissen: „Einer meiner besten Freunde – mit dem ich 2002 ein Jahr lang zusammen studiert habe in Bochum – lebte bis vor kurzem noch dort – und es war immer toll, ihn zu besuchen. Außerdem bin ich mit Ralph Köhnen von der Literarischen Gesellschaft befreundet, auch diese Freundschaft möchte ich nicht missen. Was ich so toll finde, in beiden Fällen: Auch, wenn wir uns jahrelang nicht sehen, so kommt es mir immer so vor, als wäre keine Zeit vergangen. Außerdem, und darauf freue ich mich wirklich extrem, wird Tommy Finke zu meiner Buchpremiere spielen. Ich habe ihn durch seinen Soundtrack zu ‚Junges Licht‘ entdeckt – und er hat gleich zugesagt, bei meiner Lesung Musik machen zu wollen.“
Welt-Schmerz
Wenn man Martin Becker auf die Ruhrgebiets-Literaturszene anspricht, auf Bücher, die ihm wichtig sind, kommt er wieder zurück auf den eigenbrötlerischen ehemaligen Nachtpförtner des Bochumer Schauspielhauses: „Was die Bücher angeht: Wolfgang Welt, Wolfgang Welt und Wolfgang Welt. Ich brauchte etliche Jahre, um zu verstehen, was für einen Wahnsinn er da eigentlich betreibt – und wie verdammt gut das ist. Wenn man den Ruhrpott verstehen will, dann muss man einfach Wolfgang Welt lesen. Und ich finde es verdammt traurig, dass er nicht mehr da ist. Noch verdammt trauriger finde ich eigentlich nur, dass dieser Betrieb nicht den Mumm hatte, ihm vorher noch einen wirklich großen Preis zu verleihen. Das hätte er einfach verdient gehabt. Nicht, weil seine Bücher Ruhrpott-Literatur verkörpern – sondern, weil sie vor allem richtig große Literatur sind.“
Du und Dein VfL
Auch wenn Becker im Sauerland aufgewachsen ist, blickt er bei weitem nicht von außen auf das Revier: „Da sind meine Wurzeln! Das waren die abenteuerlichen Reisen meiner Kindheit, wenn wir von Plettenberg aus zur Tante gefahren sind. Bochum ist für mich wirklich Heimat – obwohl ich nur ein Jahr überhaupt dort gelebt habe. Ich mag, wie die Stadt ist, wie sie funktioniert, wie sie sich gibt. Einfach zu bescheiden. Jajaja. Aber so ist das ja wirklich. Außerdem habe ich das Bochumer Theater damals sehr geliebt (und das unter einem Hartmann, das muss man sich mal vorstellen!) und vermisse es bis heute. Und klar, es klingt ein bisschen abgedroschen, aber es ist auch das Milieu, mit dem ich mich mehr und mehr identifizieren kann. Meine Mutter ist gelernte Näherin, mein Vater gelernter Bergmann – das prägt halt total. Ich mag die Malocher bis heute, auch, wenn ich zwei linke Hände habe. Und im Gegensatz zu meinem maulfaulen Vater bin ich eine elende Labertasche – was mir wahrscheinlich auch nicht immer Pluspunkte in Bochum einbringt. Dafür hört man, wenn ich einige Tage da bin, aber durchaus schon, dass mir die Ruhrpottsprache alles andere als fremd ist – und ich freue mich selbst immer, wenn ich mich dabei erwische, wie ich endlich rede wie im Pott. Ach so, und der letzte Punkt, natürlich eine Herzensangelegenheit: Ich liebe den VfL. Auch, wenn es wieder nicht mit dem Aufstieg klappt. Aber das kann nicht mehr kaputtgehen, allein schon, weil ich schon als Kind im Stadion war. Das ist wahrscheinlich die ganz besondere Beziehung zu Bochum, die niemals in die Brüche gehen wird!“
Martin Becker: Marschmusik | ab 13.3. im Handel | Luchterhand | 288 S. | 18 €
Buchpremiere: Fr 10.3. 20 Uhr | Goldkante, Bochum | Musik: Tommy Finke
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