Wenn die Feuilletons im gefühlten Zwei-Wochen-Takt die neueste literarische Sensation verkünden, ruft das mittlerweile oft ein Gähnen hervor. Schon tausendfach gelesen, gesehen und gehört. Der Begriff des Meister(innen)werks wurde durch inflationären Gebrauch ausgehöhlt. Gibt es das noch: Eine Überraschung? Offenbar ja! Denn eine solche kommt nun aus den USA zu uns rüber: Tess Gunty, gerade mal 30 Jahre alt, wurde als jüngste Preisträgerin seit Philipp Roth mit dem National Book Award für ihren Debütroman „Der Kaninchenstall“ ausgezeichnet.
Es geht um wenige, aber viele, um nichts und um alles. In den Apartments des La Lapinière Affordable Housing Complex in einem von der Welt weitestgehend ignorierten, ehemaligen Industrieort hausen Menschen „zwischen billigen Wänden, die kein Leben vom anderen isolieren.“ Unter den Bewohnenden befindet sich die hochintelligente, ätherische Teenagerin Blandine, die sich eine WG mit drei halbstarken Jungs teilt. Letztere gehen dem Hobby nach, bekifft kleine Nagetiere rituell zu opfern, deren Kadaver sie auf den Balkon des darunter lebenden Seniorenpaars plumpsen lassen. In einer anderen Wohnung lebt Joan, die online Nachrufe schreibt. Und irgendwo im Gebäude hadert eine Mutter mit ihrer postnatalen Depression. Figuren, deren skurril überzeichneteSchicksale sich alle aufgrund der gemeinsamen Ortsverwobenheit streifen.
Guntys Roman ist die gleichermaßen schonungslose wie hinreißend eigenartige Momentaufnahme der Abgehängten im gegenwärtigen Amerika bzw. sogenannter westlicher Kultur. Doch darüber hinaus ist er auch das Vexierbild von Einsamkeit in unserer durchdigitalisierten Welt, in der zwischenmenschliche Nähe virtuell über weite Entfernungen erzeugt wird, während uns die räumlich Nahen zu entgleiten scheinen. Es ist schwer, nein, unmöglich, die atemlose Lektüre auf engem Raum zu erfassen. „Der Kaninchenstall“ ist ein ADHS-Buch im allerbesten Sinne, das durch seine sprachliche Brillanz und klugen Humor verblüfft sowie auf jeder Seite Zeitgeist ausdünstet. Ob Gunty wirklich das „größte Talent seit David Foster Wallace“ ist, wie der Verlag unbescheiden verkündet? Vom Nektar der Genialität hat sie jedenfalls gekostet!
Tess Gunty: Der Kaninchenstall | Kiepenheuer & Witsch | 416 Seiten, geb. | 25€.
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