Erstmals verlegt wurde Thomas Althoffs Roman „Komm, wir schießen Kusselkopp“ 1999 – und 2010 erschien das Buch bereits in der 5. Auflage. Im Jahr der „Ruhr.2010“ entstand auch der „Ruhrgebietsladen“ in Mülheim-Heißen, der bis heute besteht – auch wenn das Kulturhauptstadt-Brimborium längst Geschichte ist und die im Laden immer noch verkauften Souvenirs nicht mehr für ein Massenpublikum produziert werden. Und Thomas Althoff tourt immer noch mit seinem Buch durchs Revier und schlägt, wie der Buchtitel besagt, (literarische) Purzelbäume, als stünde die Zeit still. Unermüdlich lässt er uns spüren, wie sich die 50er Jahre vielleicht angefühlt haben könnten, die – trotz aller Entbehrungen der Nachkriegszeit – gerade aus kindlicher Perspektive ihren eigenen Charme gehabt haben mögen; doch zweifellos auch ihre eigene Tragik.
Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Jungen, der im Ruhrgebiet groß wird. „Die 50er Jahre waren anders“, kommentiert Thomas Althoff den historischen Hintergrund: „Kaum Autos auf den Straßen“ – dafür „viel mehr Kinder“. In der „Zeit der warmen Sommer, als alles nach frischem Regen roch, als die Sprengwagen durch die staubigen Straßen fuhren“, entfaltet sich ein bittersüßes Panorama einer verschwundenen Welt zwischen der ersten Kinderliebe und dem gefährlichen Spiel auf Trümmergrundstücken. „Ich habe selten etwas leckereres getrunken als Lakritzwasser“, illustriert der Autor seine persönlichen Erinnerungen, die von starken Sinneseindrücken geprägt sind. Diese scheinen umso mehr hervorzutreten, desto entbehrungsreicher die Nachkriegsjugendjahre waren – als wäre mit einer riesigen Schöpfkelle ein Kontrastmittel über die Buchseiten gegossen worden.
Die kindliche Perspektive nimmt auch den Schatten der Vergangenheit ihren traumatisierenden Aspekt. So scheint es gar nicht wichtig zu erfahren, warum der ältere Spielkamerad Hans-Hermann, der Flak-Helfer gewesen und in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten war, mit einem Holzbein durch den Roman humpelt. Auch „unheimliche Begegnungen mit Hexen und Gnomen“, bei scheinbar endlosen Spaziergängen durch den Schellenberger Wald oberhalb des Essener Baldeney-Sees, verlieren ihren Schrecken – ist da doch der „Oppa“ an der Seite des Protagonisten, den dieser „in [s]ein Kinderherz geschlossen“ hat. Erst eine Schlagwetterexplosion mit zahlreichen toten Bergleuten auf der Zeche Dahlbusch im heimatlichen Gelsenkirchen-Rotthausen markiert eine Zäsur im Leben des Ich-Erzählers. Die warmen Sommer der Kindheit neigen sich dem Ende und die harte Realität bricht ins Leben ein, während die im Buch leitmotivisch erzählte Kinderliebe unerfüllt bleibt.
Schreibanlass für „Komm, wir schießen Kusselkopp“ waren der Tod von Thomas Althoffs Mutter und eine beim Aufräumen des Elternhauses wiedergefundene Zigarrenkiste mit den „Schätzen der Kindheit“ – darunter eine Plastikrose, die er seiner angebeteten Kinderliebe nie geschenkt hat, bevor diese überraschend mit ihren Eltern ins Rheinland verzog. Es ist eine Mischung aus romantischer Verklärung und wehmütiger Verlusterfahrung einer vermeintlich heilen Kinderwelt, die den Reiz des Buches ausmacht. Insofern kann der Roman selbst als „Schatzkiste“ begriffen werden, in der nicht nur Leserinnen und Leser fündig werden, welche die dort erzählten Jahre von 1949 bis 1956 selbst erlebt haben. Auch jüngere Ruhrgebietsbegeisterte kommen zweifellos auf ihre Kosten – nur sollten diese bei der Lektüre nicht aus dem Blick verlieren, dass bei Weitem nicht alles Gold war, was seinerzeit auf den zahllosen Trümmergrundstücken zu glänzen schien.
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