Essen, 6. Juli – Den größtmöglichen Coup hatte die Berliner Regisseurin Maren Ade mit „Toni Erdmann“ schon im Mai gelandet: An der Côte d’Azur überschlug sich die internationale Filmpresse über diesen ersten deutschen Beitrag bei den Filmfestspielen in Cannes seit acht Jahren. Nun präsentierte sie in Begleitung ihrer fulminanten Hauptdarstellerin Sandra Hüller in Essen die Deutschland-Premiere ihres Films. Schon nach wenigen Minuten wurde in der ausverkauften Lichtburg geschmunzelt und dann immer lauter gelacht über diese außergewöhnliche Tragikomödie bis schließlich eine sensationelle Gesangsnummer von Sandra Hüller Szenen-Applaus erntete.
Das Team, allen voran der legendäre Verleih-Chef Christoph Ott, äußerten sich begeistert über den Rahmen: „Die Lichtburg ist das allerschönste Premieren-Kino in Deutschland. Das gibt es weder in München noch in Berlin. Weder das Kino, noch das Publikum. Sie geben dieser Premiere Glanz.“
„Toni Erdmann“ mutet an wie eine Mischung aus Loriot und „Female Perversions“, und dieser skurrile Spagat, den Maren Ade mit sicherer Hand durch inszeniert, spinnt das Publikum ein in die dysfunktionale Beziehung zwischen Vater und Tochter: Zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und sich aneinander abarbeiten. Da ist der Vater (Peter Simonischek) mit bulliger, schmuddeliger Präsenz, der versucht irgendwie in Kontakt zu kommen mit seiner Tochter Ines (Sandra Hüller), einer international erfolgreichen, nervösen Unternehmensberaterin. Die beiden liegen definitiv nicht auf einer Wellenlänge. Er ist ziemlich abgehalftert, Ines dagegen stets aus dem Ei gepellt in ihrer beinharten Business-Welt. In Bukarest, wo sie sich grade um das „Outsourcing“ einer angeschlagenen Firma kümmert, taucht nun überraschend der Vater auf, mischt sich in ihr Leben ein und tritt absichtlich in jedes Fettnäpfchen, das sich ihm bietet. Mit einem Faible für absurde Verkleidungen und skurrilen Witz bringt er Ines in hochnotpeinliche Situationen; mal in der Bukarester US-Botschaft, mal im Luxus-Club oder vor dem Chef. Während sie gerade per Videochat eine kleine Session in Selbstoptimierung mit ihrem Coach durchzieht, lauert er schon auf der Dachterrasse der Firma und spielt vor den Arbeitskollegen die Karikatur eines Strippen ziehenden Geschäftsmanns, alias Toni Erdmann. Und weil in dieser Scheinwelt sowieso alle nur irgendwelche Rollen spielen und an ihrer „performance“ arbeiten, treibt Toni Erdmann nur komödiantisch auf die Spitze, was er um sich herum wahrnimmt. Dieser Eindruck von Verstellung und Getue ist omnipräsent. Toni streut mit seiner Übertreibung nur ein bisschen Sand ins Getriebe. „Bist du eigentlich ein Mensch?“, fragt er dann irgendwann seine Tochter in einem der wenigen Momente der Ernsthaftigkeit.
Das Thema Familie interessiere sie schon länger, führt Ade in einem kurzen Gespräch nach dem Film aus. Ihr ginge es darum, die typisch statische Familien-Konstellation, in der jeder seine Rolle inne hat, aufzubrechen. So erfindet sie diesen Vater, der seine Umwelt mit Scherzen herausfordert und nervt. „Ein Mann, der sich verwandelt in einen anderen, um seiner Tochter neu zu begegnen.“ Auch in ihrer eigenen Familie gäbe es den Hang, Probleme mit Humor zu lösen, so Ade.
En passant dekliniert Maren Ade bitterböse die abgebrühten Riten einer neoliberalen Business-Welt durch, die egozentrisch um sich selber kreist und keinen Platz für Menschlichkeit lässt.
„Toni Erdmann“ startet am 14. Juli in den deutschen Kinos.
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