Die Wuppertaler Oper legt einen Neustart hin. Nach zwei Jahren ohne eigenes Ensemble gibt es wieder eine feste Sängerriege, und der neue Intendant Berthold Schneider eröffnet die Saison mit einem sehr speziellen Stück, das es so an einem Opernhaus noch nie gegeben hat: einer Video-Oper.
Ob die „Three Tales“ von Videokünstlerin Beryl Korot und dem Altmeister der Minimal Music Steve Reich tatsächlich eine Oper sind, darüber lässt sich durchaus streiten. Ein veritables Ereignis für das Opernpublikum sind sie in jedem Fall. Die Besonderheit fängt schon beim Ort der Aufführung an – nämlich dem hinteren Bühnenraum zwischen Brandmauer und Portal. Dort sitzt das Publikum auf Drehsesseln zwischen zwei Leinwänden sowie den Musikern und Sängern. Auch die Werkeinführung fällt deutlich aus dem Rahmen: Nach dem gewohnten Theorie-Vortrag im Foyer gibt es noch einen Praxisteil mit dem Schlagzeuger des Orchesters. „Clapping Music“ heißt die kleine rhythmische Fingerübung, zu der man nur zwei Hände und etwas Rhythmusgefühl braucht. Das kleine Klatschstück vermittelt eines der tragenden Kompositionsprinzipien von Steve Reich: das „Phasing“. Zwei rhythmische Muster, die in einer Schleife ständig wiederholt werden, verschiebt der Komponist nach und nach gegeneinander und erzielt in der Überlagerung ein neues, sich kontinuierlich wandelndes Muster.
Die Wuppertaler Erstaufführung ist eine Hommage an den bekannten US-Komponisten, der im Oktober seinen 80. Geburtstag feierte. Die „Three Tales“ hat er bereits 2002 beschrieben für die Wiener Festwochen. Auf Festivals sind sie seither des Öfteren zu erleben gewesen – in einem Opernhaus hingegen noch nie. Für das eher kleine Haus in Wuppertal ein beträchtlicher Aufwand. Ein ganzes Jahr lang hat Schneider auf das frisch überarbeitete Video gewartet – und er hat Sängern und Orchester eine große Aufgabe gestellt. Denn anders als bei einer normalen Opernaufführung gibt nicht der Dirigent, sondern der Film mit seiner Tonspur den Takt vor. Dirigent Jonathan Stockhammer arbeitet mit Metronom-Klick im Ohr. Zwei Soprane und drei Tenöre werden von einem Streichquartett, zwei Klavieren, einem Schlagzeug und einem Vibraphon begleitet. Rund 80 Minuten lang gibt es für die Musiker kaum ein Durchatmen. Und sie schlagen sich dabei sehr beachtlich. Die Wuppertaler Aufführung braucht sicher keinen Vergleich zu scheuen.
Ob man in „Three Tales“ eine echte Oper sehen will, wird da eher nebensächlich. In der Tat sind die Sänger so stark in das Orchester integriert, dass man auch von einem Video-Konzert mit Gesang sprechen könnte. Einfacher macht das die Gesangspartien indes nicht. Live-Gesang und Sprache der Filmtonspur müssen genauso fein synchronisiert sein wie die Instrumentalparts.
Inhaltlich kommen die „Three Tales“ ebenfalls wenig opernhaft daher. Denn in weiten Teilen ist das Video zwar künstlerisch gestaltet und verfremdet, in seinem Kern aber ein Dokumentarfilm. Es geht um den technischen Fortschritt in seiner schlimmstmöglichen Form: Die Katastrophe des Luftschiffs „Hindenburg“, das 1937 in New Jersey explodierte, die mehr als 20 Nuklearwaffentests auf dem Bikini-Atoll in den 1940er und 50er Jahren und schließlich das geklonte Schaf „Dolly“ 1997 sowie die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Korot und Reich stellen mit dokumentarischen Belegen und subtilen Montagen die menschliche Hybris heraus, ohne weiter zu moralisieren.
An das Publikum wachsen die Anforderungen mit jeder Episode. Besonders die umfangreichen Interviewsequenzen zur Gentechnik (englisch mit Übertiteln) verlangen dem Zuhörer eine hohe Konzentration ab. Doch Komponist Reich hilft immerhin, unterstreicht das Wichtigste quasi mit dem musikalischen Textmarker, indem er Wörter und Satzteile herauslöst und verarbeitet. Und während inhaltlich die Anforderungen an den Intellekt steigen, tun sie es musikalisch nicht. Der Zuhörer gerät in einen intensiven Sog von Bilderstrom und pulsierender Musik, ohne dass ihm dabei der Geist vernebelt würde. Ein echtes Erlebnis!
„Three Tales“ | R: Berthold Schneider | Sa 10.12. 20 Uhr, So 11.12. 18 Uhr | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66
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