trailer: Frau Binder, gerade die Arbeit von Pina Bausch hat Sie sehr fasziniert und dazu beigetragen, dass sie sich der Tanzkunst zugewandt haben. Können Sie noch fassen, was Sie damals so fasziniert hat?
Adolphe Binder: Ich kam vom Schauspiel, ich habe mit Mitte 20 begonnen mit Tanz zu arbeiten. An der Uni habe ich viel zu Körperkonzepten recherchiert und publiziert. Körperidentität war immer ein Thema und als ich dann beim Friedrich Verlag, einem Kulturzeitschriftenverlag in Berlin anfing, war ich immer mit den Kollegen von der Tanzabteilung und den Schauspielkollegen von „Theater heute“ unterwegs. Da fing ich an, mir mehr Tanz anzuschauen. Da habe ich erkannt, wie sich das Sprechtheater durch den Einsatz des Körpers erweitern kann, das hat mich wahnsinnig fasziniert. Das geschah durch die Arbeiten von Pina Bausch, aber auch durch die Arbeiten von Ohad Naharin. Als mich dann Richard Cragun, Ballettchef an der Deutschen Oper in Berlin fragte, ob ich als Dramaturgin bei ihm einsteigen wolle, war ich Feuer und Flamme und wollte das unbedingt probieren. Da ging es darum, eine Art von künstlerischer Neuaufstellung anzukurbeln und das zieht sich wie ein roter Faden durch meine berufliche Biografie. Das war eine neoklassische Ballettkompanie, Cragun hatte Lust neuere Sachen zu machen und brauchte eine Dramaturgin, die ihn dabei unterstützte. Das war Mitte der neunziger Jahre. Als Deutsche Oper haben wir damals probiert, die Rechte für das „Frühlingsopfer“ von Bausch zu ergattern. Das wollten wir gerne machen vor mehr als 2 Jahrzehnten, zusammen mit Preljocaj in einem Programm, haben wir aber nicht bekommen, da war Frau Bausch sehr klar. Ironischerweise bin ich jetzt 22 Jahre später in Wuppertal gelandet. Schon verrückt das Leben.
Seit Ihren Anfängen hat sich die Tanzszene stark verändert. Hat sich ihr Blick auf Tanz auch nochmal geändert, gerade wenn Ihre Anfänge bei der Ballettbetrachtung lagen?
Eigentlich komme ich von der „Zeitgenossenschaft“. Über das Schauspiel Hannover und den Friedrich Verlag bin ich als erste „Tanz-Station“ bei der Struktur eines neoklassischen Balletts gelandet, an der Deutschen Oper Berlin, aber auch um dort ein zeitgenössisches Programm einzuführen. Ich habe Kulturprogramm für die Expo2000 gemacht – da war auch Tanz involviert, wir haben viel Performance, Live Art und „site-specific“ programmiert. Danach habe ich das Tanztheater der Komischen Oper mit vielen Uraufführungen programmiert. Mein Interesse war immer, mich im Heute zeitgenössisch im künstlerischen Ausdruck zu verankern, deshalb sehe ich mich eher als Repräsentantin der erfinderischen Recherche und des Baus neuer Formate und Resonanzräume. Das war immer mein großes Steckenpferd. In Schweden habe ich dann eine Ballettkompanie, damals das Göteborg Ballett übernommen, aber nach einem Jahr in die Göteborg Danskompani umgewandelt. Ich habe immer Teams eingeladen, bildende Künstlerinnen und Künstler, und wir haben nur neue Arbeiten, also Uraufführungen gemacht. Über 50 in den fünf Jahren. Insofern sehe ich mich nicht als Vertreterin der Ballettform, sondern sehe das Überführen von in Institutionen verankerten, etablierten Strukturen in die Zeitgenossenschaft als meine Aufgabe, sowohl künstlerisch-inhaltlich, als auch strukturell: Wie arbeitet man, was ist ein Kreationsprozess? Das hat ja viel damit zu tun, wie man die Arbeitsform und die Rechercheform begreift, wie viel Raum man was und wem gibt. So etwas braucht Zeit und Mut. Und natürlich partnerschaftliche Unterstützung und Schutz.
Sie haben Dimitris Papaioannou und Alan Lucien Øyen als erste Choreografen nach Wuppertal geholt. Warum sind die beiden ihrer Meinung nach genau die Richtigen, um die Zukunft einzuleiten?
Es sind zwei sehr spannende Künstler, die genreübergreifend arbeiten. Letztlich ist es auch der Kern des Tanztheaters, nicht im Denken und Schaffen einzelner Sparten verhaftet zu sein, sondern sich zwischen und über die Disziplinen hinaus zu positionieren. Die beiden unterscheiden sich stark voneinander und gleichzeitig sind sie als einzelne Künstler aus meiner Sicht vom geistigen Erbe Pina Bauschs beeinflusst, indirekt und teils unwissentlich. Ihr Werk hat die zeitgenössische Kunst des 20. Jahrhunderts weit über die Choreografen- oder Regieszene maßgeblich beeinflusst. Das spürt man bei vielen Künstlern und bei den beiden eben auch. Beide interessieren sich für Menschen im Verhältnis zu ihrer Existenz, in der Verbindung zur Welt und ihrem eigenen Schattensein – in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Beide interessieren sich auch für die bildliche Darstellung, der eine mehr cineastisch, der andere mehr aus der Perspektive der bildenden Kunst. Insofern finde ich, dass beide gemeinsam zu unserer Kernidentität beitragen, ohne auf eine eigene Handschrift zu verzichten. Ihre Methoden sind sehr unterschiedlich – es wird uns bereichern.
Was planen Sie mit den beiden?
Mir war es ein großes Anliegen, dass wir zwei abendfüllende Stücke machen, keine geteilten Abende. Die mag ich nicht so gerne, weil ich das Gefühl habe, darin kann man sich nicht künstlerisch entfalten. Nach neun Jahren tauchen wir gemeinsam mit dem ganzen Ensemble des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch das erste Mal wieder so richtig ein, gestalten gleichzeitig zwei neue Stücke und können uns darüber austauschen. Ich habe beide Choreografen eingeladen, eine Woche mit der gesamten Kompanie zu arbeiten, um sich kennenzulernen. Danach haben wir dann gemeinsam die geteilte Besetzung gemacht. Jetzt arbeitet ungefähr die eine Hälfte mit Øyen und die andere Hälfte mit Papaioannou.
Welche Rolle nehmen Sie ein?
Ich war in die Konzeptfindung involviert, der Besetzung und bin jetzt teils mit in den Proben. Wir führen viele Gespräche, begonnen haben wir im Sommer ’16 mit unserem Austausch. Ich habe keine Themen vorgegeben, interessanterweise hat sich dennoch ein Subtext ergeben, wie ich merke – das muss aber jeder Besucher für sich selbst herausfinden. Im künstlerischen Austausch bin ich sehr eng mit den Kreativteams verbunden und auch was die Art der Recherche und Findungsprozesse angeht. Das Tanztheater hat ja in dieser Form noch nie produziert. Die Künstlerin war ja immer vor Ort, sie war Teil des Ensembles, sie kannte alle über Jahrzehnte. – Es war eine andere Zeit. Zeit ist ein gutes Stichwort. Irgendwie gab es früher mehr Zeit, andere Ressourcen auch. Jetzt kommen Gäste, große internationale Teams, die sich zum Teil untereinander auch nicht kennen. Bei Alan Lucien Øyen und Bühnenbildner Alex Eales war das ein Zusammenbringen von zwei Künstlern, von denen ich dachte, dass sich das wunderbar ergänzt, und das tut es auch. Eigentlich ist es wirklich das erste Mal, dass auf diese Art und Weise hier im Tanztheater produziert wird. Es ist anders als in meinem vorherigen Job, wo ich Themen vorgegeben habe.
Wie unterschieden sich die beiden in ihren Arbeitsstrategien?
Øyen erzählt Geschichten, die stark aus dem Leben und den Erfahrungen der einzelnen Künstlerinnen und Künstler kommen, er verwebt sie in semi-narrative Stränge, sehr eklektisch und doch dramaturgisch verknüpft. Papaioannou reflektiert mehr über Seinszustände des Menschen im mythologischen Kontext. Er arbeitet nicht so sehr auf der individualisierten Ebene, mehr aus der Verknüpfung einer Gruppe. Øyen ist sehr offen in seiner Form und gestaltet die Idee im Zusammensein mit Ensemble im Raum und in Realzeit. So entsteht eine dramatische Ebene, die in der geteilten Autorenschaft liegt. Bei Øyen werden Texte gemeinsam mit den KünstlerInnen geschrieben, im babylonischen Sprachgewirr. Mit ihm habe ich in meiner anderen Funktion in Schweden schon zwei Kreationen zusammen gemacht, da kannte ich den Prozess relativ genau.
Und Papaioannou?
Dimitris kommt völlig ohne Texte aus, er ist ein Poet, der die ikonische Darstellung liebt. Er kommt mit einer starken Konzeptidee und modelliert sie dann im Prozess. Er malt wundervolle Szenarien mit Menschen und es ist spannend das mitzuerleben. Die Ursprungsidee hat er dann über Weihnachten komplett überarbeitet. Zu sehen, was er schön findet und in seinen Blick einzutauchen, diesen Prozess zu sehen, wenn etwas vorgeschlagen wird und worauf er reagiert. Da in Resonanz, in diese Echoräume mit ihm zu gehen, da lerne ich auch unglaublich viel. Ich hoffe, dass es den anderen auch so geht und dass alle, die hier mit im Boot sind, das zu schätzen wissen. Es ist wirklich eine Rarität – das lässt sich auch in so einer Jungfräulichkeit nicht wiederholen. Mit Dimitris bin ich schon lange im Gespräch, seit 2012, noch bevor er international so viel Aufmerksamkeit bekommen hat. In den letzten Monaten ist ein Riesenhype um ihn entstanden. Das ging ja erst im letzten Jahr international los, vorher war es mehr auf Griechenland fokussiert, abgesehen von den Olympischen Spielen – die sehr viel Aufmerksamkeit bekommen haben, er hat ja die Eröffnungs- und Schlusszeremonie entworfen. Seitdem heißt es, sind für solche Inszenierungen neue künstlerische Maßstäbe gesetzt, da konnte noch keine andere Stadt mithalten.
Die Stücke heißen bisher nur „Neues Stück I“ und „Neues Stück II“.
Da schließen wir an alte Traditionen des Tanztheaters an. Pina Bausch hat ihren Stücken nie vor der Uraufführung einen Titel gegeben, und ich empfinde das als große Erleichterung. Der Titel kommt, wenn das Stück fertig ist, er ergibt sich aus dem Ergebnis, das ganz am Ende des Erfindungsprozesses steht und ist nicht eine Vorgabe.
Wie würden Sie denn die Stimmung gerade im Ensemble und bei den Proben beschreiben?
Es leuchtet. Ich empfinde es als sehr inspiriert und konzentriert. Wir arbeiten in zwei Räumen gleichzeitig. Die Atmosphären sind sehr unterschiedlich. Es ist sehr intim. Es ist in großen Teilen auch sehr still, eine laborhafte Situation. Es hat was Magisches, manchmal auch was Verzweifeltes, Suchendes. Ich halte mich sehr gerne in diesen „fragwürdigen“ Zuständen auf, auf unsicherem Boden, in der Ungewissheit. Eigentlich ist das Schöne daran, mal nicht zu wissen, was es sein wird. Das Suchen. Ein brennender Zustand. Für manche ist sowas eine Herausforderung, aber nur so kann Neues entstehen.
Hatten Sie seit Ihrer Übernahme der Intendanz Momente, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Es sind viele „kleine“ Momente mit einzelnen Künstlerinnen oder Künstlern. In dieser institutionalisierten Form, die sich über die vergangenen neun Jahre geformt hat, ist dennoch diese anarchische Kraft zu spüren, aus der so viel Weises gewachsen ist. Das ist das, was ich wirklich spannend finde, mich an diese Radikalität und an dieses Anarchische anzuknüpfen, in der Hoffnung, einen kleinen Beitrag leisten zu können, damit diese phänomenalen Künstlerinnen und Künstler sich wieder zeigen können. Mit all ihrer und meiner Wirkmacht. Ich liebe dieses transkulturelle Sein in Pina Bauschs Lichtburg mit diesen sehr besonderen, handverlesenen Menschen aus der ganzen Welt. In diesem Kennenlernen steckt für mich die schöpferische Kraft, ohne die nichts geht. Ich kann Ihnen sagen, dass es mir ein wahnsinnig großes Vergnügen ist mit den Tänzerinnen und Tänzern dieser Kompanie zusammen zu sein. Ich finde es höchst bereichernd, dass ich mit Menschen aus unterschiedlichen Generationen arbeiten kann, die so viel Erfahrung haben, gleichzeitig aber so bodenständig sind. Das hat eine Authentizität, die mich wirklich bereichert, und da fühl ich mich auch heimisch. Ganz interessant, denn es ist ja eigentlich schon ein zusammengewürfelter Mikrokosmos von teilweise Heimatlosen, die aber in sich und in der Gegenseitigkeit eine Heimat finden. Das finde ich wirklich schön, und es sind diese Momente, in denen ich mit dem Ensemble gemeinsam in der Lichtburg sein kann. In einem sehr geladenen Raum, mit viel Geschichte, die alle Facetten in sich trägt. Das finde ich faszinierend. – Man muss sich erinnern, dass die sich immer wieder erfunden haben. Von Jahr zu Jahr eine neue Produktion, und das gab es jetzt lange nicht. Da öffnet sich ein wunderschönes Ventil. Ich hoffe, dass das angenommen wird.
Was steht nach den Premieren an?
Nach den Premieren stehen Vorstellungen an, die Premiere ist erst der Anfang, nie das Ende einer Produktion. (lacht) Dann Tourneen nach Oslo, Amsterdam, Paris. Es ist das erste Mal, dass das Tanztheater Stücke in solcherlei Koproduktion macht, das ist mir ganz wichtig gewesen. Wir koproduzieren mit unterschiedlichen Häusern und Partnern, all diese investieren wie wir in das Unbekannte und nehmen Risiko auf sich. Das ist neu.
„Neues Stück I“ – Eine Kreation von Dimitris Papaioannou | 12.(P), 15., 16., 18., 19.5. je 19.30 Uhr, 13., 20.5. je 18 Uhr | „Neues Stück II“ – Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | 2.(P), 5., 6., 8. 9.6. je 19.30 Uhr, 3., 10.6. je 18 Uhr | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66 | www.pina-bausch.de
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