In einem real existierenden Tunnel inszeniert Sybille Fabian in der Wuppertaler Oper Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“. „In der Unübersichtlichkeit der modernen Welt wird Schuld verwischt und abgeschoben, der Moderne kommt nur die Groteske bei“, so der Schriftsteller 1966. Wer sich also in Wuppertal mal einen tragikomischen Abend auf Schweizer Art gönnen will, der schlittert in Fabians Inszenierung in ein vehement mimisches Spiel auf farbloser Bühne, auf der sich gar grausige Szenen abspielen. Hinten kein gähnendes schwarzes Loch, sondern ein erdiger Haufen – niemand weiß, ob es Abraum für eine einst geplante U-Bahn oder die Relikte einstiger industrieller Bedeutsamkeiten sind. Vorne die Stadt Güllen, Ort der Handlung und am Ende. Der Mammon hat sie fallengelassen und so stürzen die Bewohner nun erst Recht auf ihn zu. Konkret heißt das auf Claire Zachanassian (gespielt von An Kuohn), die vom Leben gebeutelte Ex-Geliebte des bankrotten Kaufmanns Ill. Von der Dirne wurde sie zur Millionärin und will nun die Last ihres Geldbeutels fröhlich auf ein ganzes Dorf verteilen– mit bösen Hintergedanken.
Die Schuld von ganz Güllen liegt bestens unter dem erdigen Haufen ganz hinten im Tunnel begraben. Langsam kriechen die Güllener Bewohner bei Ankunft Zachanassians wie Larven daraus hervor, beklagen ihr finanzielles Unheil und ihre unverschuldete Bedeutungslosigkeit. Ein abgeordnetes Trio infernale aus Ill, Bürgermeister und dem unheiligen Pastor bespricht die geschickteste Umgangsweise mit dem potenten Gast. Schon hier kehren die Protagonisten ihr bankrottes Inneres nach außen: Viel Kleidung ist ihnen nicht geblieben, das letzte Hemd fungiert als Uniform. Das Schuhwerk mühsam am Gürtel befestigt schlurfen die einst so mächtigen dahin. Selbst die Gesichtszüge haben sich wie die Überland-Loks mit großen Namen verflüchtigt und Grimassen Platz gemacht, die nackte Gier zeigen.
Fabian choreografiert ihre großartigen Schauspieler 140 Minuten durch den Tunnel. Alles siecht und An Kuohn ist als Claire Zachanassian ein boshafter, rachesüchtiger Cyborg. Ihre zahllosen Prothesen werden nur von ihrem Hass gegen den kommunalen Hoffnungsträger Ill zusammgehalten, der sie einst schwanger sitzen ließ.
Der Besuch der alten Dame, Sa. 1.6., 19:30 Uhr, Opernhaus Wuppertal, Infos: 0202-5 63 76 66
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Neue Allianzen
Bühnen suchen ihr Publikum – Theater in NRW 07/23
Überwältigender Raumklang
„Intolleranza 2022“ an der Oper Wuppertal – Oper in NRW 10/22
Wenn die Lippen schweigen
Franz Lehárs „Lustige Witwe“ im Operhaus Wuppertal – Oper in NRW 08/22
Die oberste Unterwelt
„Die Hölle/Inferno“ in der Wuppertaler Oper – Theater Ruhr 01/19
Szenenapplaus für die Kulisse
China-Operette „Das Land des Lächelns“ in Wuppertal – Oper in NRW 11/18
„Wir tauchen das erste Mal wieder so richtig ein“
Intendantin Adolphe Binder über die neuen Stücke des Tanztheater Wuppertal – Tanz in NRW 05/18
Video-Oper zum Neustart an der Wupper
Steve Reich zum 80. Geburtstag: „Three Tales“ – Oper in NRW 12/16
„Das ist ja eine gigantische Anarchie, die da herrscht.“
Shakespeares „Viel Lärm und Nichts“ im Opernhaus Wuppertal – Premiere 04/14
Ein Musical mit Tiefgang
„Evita“ an der Wuppertaler Oper – Musical in NRW 12/13
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20
Donna Quichotta der Best Ager
„Linda“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 01/20
Spiegelei, Toast und Tier
„Das Reich der Tiere“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 12/19
Heute geht es auch ohne Brandbeschleuniger
„Biedermann und die Brandstifter“ in Essen – Theater Ruhr 11/19