In den Tagen der Quarantäne hat sich eine bemerkenswerte Geste etabliert. Ob in Deutschland, Italien oder England: Überall applaudieren die Menschen auf ihren Balkonen, an den Fenstern oder im Vorgarten jenen, die ihre Arbeit gerade nicht im Home-Office erledigen können. Denjenigen, die gerade nicht das Privileg genießen, sich den Kopf darüber zermartern zu können, ob die kontaktlose Zeit lieber in Yoga-Stunden oder den längst zu lesenden Klassiker investiert werden soll. Jenen also, die neuerdings als „systemrelevant“ bezeichnet werden: Supermarktkassierer, Polizisten, Ärzte und Pflegekräfte. Der Applaus löst bei den Beklatschten ambivalente Gefühle aus. Klar, schön ist die kleine Aufmerksamkeit schon. Aber das allein kann es nicht gewesen sein. Das wird besonders bei den Pflegekräften offenbar. Viel zu lange schon wird über die prekären Arbeitsverhältnisse diskutiert, denen Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altersheimen ausgesetzt sind. Angesichts des geringen Lohns, Arbeitsbelastungen an der Burnout-Grenze und des schlechten gesellschaftlichen Ansehens ist das bisschen Applaus ein schwacher Trost – gerade dann, wenn Pflegekräfte in Zeiten von Corona auch ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen.
Und doch: das Klatschen verdeutlicht als symbolische Geste einen Perspektivwechsel, den die Corona-Krise einläuten könnte. Das wird besonders dann deutlich, wenn man den politischen Diskurs über Krankenhäuser in den Blick nimmt, der vor Corona dominierte. Dominiert hat dort nämlich, wie fast überall, eine ökonomische Logik. In einer Bertelsmann-Studie von 2019 wurde gefordert, die Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland um mehr als die Hälfte zu reduzieren. Durch eine Bündelung der Kapazitäten in den verbliebenen Häusern sei eine bessere Versorgung gewährleistet – vor allem aber eine bessere ökonomische Bilanz. Nicht umsonst wird in der Studie auf die prekären Finanzen vieler Krankenhäuser hingewiesen. Weniger Krankenhäuser, so die Annahme, bedeuten eine höhere ökomische Effizienz. Schon nach Erscheinen wurde die Studie kritisiert. Eugen Brysch, im Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, warnte vor einem „Kahlschlag“. Heute aber, im Angesicht einer globalen Gesundheitskrise, mutet der Vorschlag der Studie regelrecht zynisch an.
In einem nie dagewesenen Ausmaß wurde das Wirtschaftsleben runtergefahren. Die ökomische Perspektive wird verdrängt. Die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung hat plötzlich absolute Priorität. All die politischen Anstrengungen, die Milliarden, die in kürzester Zeit auch für das Gesundheitswesen mobilisiert wurden, brechen mit der neoliberalen Erzählung einer „alternativlosen“ Politik. Es ist voreilig und wahrscheinlich auch ein bisschen naiv zu glauben, dass die Corona-Krise unsere Gesellschaft zu einer besseren macht. Trotzdem legt die Krise und die Diskussion über Systemrelevanz den Blick darauf frei, dass öffentliche Bereiche wie das Gesundheitswesen sich nicht zwangsläufig einer ökonomischen Logik zu beugen haben. Dass das Wohl der Patienten über jeder wirtschaftlichen Erwägung zählt. Und sie rückt die prekären Arbeitsverhältnisse, unter denen Pflegekräfte momentan Leben zu retten haben unter das Brennglas der Öffentlichkeit. Man kann nur hoffen, dass diese Perspektive auch erhalten bleibt, wenn die Krise hoffentlich schnellstmöglich überstanden ist. Alternativlos jedenfalls, und das werden sich nicht nur die Pflegekräfte merken, ist gar nichts. Wer das in Zukunft behauptet, wird in Erklärungsnot geraten.
Gesundes Krankenhaus - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
dkgev.de | Auftritt der Deutschen Krankenhausgesellschaft, u.a. mit einem Krankenhausverzeichnis.
klinikbewertungen.de | Das Such- und Bewertungsportal hilft bei der Suche nach Krankenhäusern und Spezialabteilungen.
verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/aerzte-und-kliniken/so-finden-sie-das-geeignete-krankenhaus-10410 | Leitlinien der Verbraucherzentralen für die Krankenhaussuche.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Krisenerfahrung
Intro - Gesundes Krankenhaus
„Patienten werden als Gewinnquelle gesehen“
Soziologe Karl-Heinz Wehkamp über Ethik und Ökonomie der Medizin – Teil 1: Interview
Klinikpersonal sieht den ganzen Menschen
Anthroposophischer Ansatz im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke – Teil 1: Lokale Initiativen
Kranke sind keine Kunden
Covid-19 verdeutlicht einen 30-jährigen neoliberalen Irrweg – Teil 2: Leitartikel
„Das System wackelt“
Mediziner Felix Ahls über Krankenhausfinanzierung – Teil 2: Interview
Reale Gefahr und digitaler Schutz
Das Gesundheitssystem unter Druck – auch in Köln – Teil 2: Lokale Initiativen
Im Wettlauf gegen den Keim
Stehen wir vor der post-antibiotischen Ära? – Teil 3: Leitartikel
„Große Lücken im Kampf gegen Keime“
Infektiologe Peter Walger über die Gefahr multiresistenter Erreger – Teil 3: Interview
Händewaschen auch nach Corona
Aktion Saubere Hände in Wuppertal – Teil 3: Lokale Initiativen
Freiwilligkeit statt Zwang
Unorthodoxes Krisenmanagement – Europa-Vorbild: Schweden
Die Zeit der hirnfressenden Besserwisser
Bald in einem Krankenhaus in Ihrer Nähe? – Glosse
Schulenbremse
Teil 1: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 2: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 3: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 1: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Werben fürs Sterben
Teil 1: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Europäische Verheißung
Teil 1: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 1: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf