Selten sind sie, jene Perlen unter den Büchern, welche die Welt verändern. Und wenn gedruckte Werke dies zu leisten vermögen, stellt sich stets aufs Neue die Frage, ob dies allein zum Wohle der Menschheit geschieht – insbesondere, wenn man an religiöse Schriften wie die Bibel und den Koran denkt. Aber auch Goethes „Werther“ ist in seiner Wirkung durchaus ambivalent zu betrachten – soll die zeitgenössische Rezeption des Werks doch eine Selbstmordwelle ausgelöst haben. Und selbst revolutionäre Dystopien wie George Orwells „1984“ sind nicht vor einer grundlegenden Umkehrung ihrer eigentlich intendierten Wirkung gefeit – denkt man an die gleichnamige RTL-II-Dauersoap, durch welche eine fast vollständig überwachte Privatsphäre offenbar suggestiv zum Normalzustand gemacht werden soll.
Stellt man sich jedoch die Frage nach einer (durchweg) positiven Art der Weltveränderung durch ein literarisches Werk, muss ‚Welt‘ wohl anders definiert werden. Dies zu hinterfragen hat sich das Schauspielhaus Bochum mit dem Start der neuen Lesereihe „Bücher, die die Welt verändern“ zur Aufgabe gemacht und geht hierbei vom individuellen Rezipienten aus: „Es gibt sie, die Bücher, die Teil der eigenen Biografie geworden sind, die einen entscheidenden Impuls gaben, die die eigene und die Welt anderer verändert haben“, heißt es in der Ankündigung der neuen Reihe, in deren Rahmen in der Spielzeit 2017/18 aus Romanen und Erzählungen gelesen wird, die das Potenzial hierzu mitbringen.
Am 30.9. eröffnete das langjährige Schauspielhaus-Ensemblemitglied und Minetti-Preisträger Dietmar Bär die Reihe, im Zuge derer bald auch andere SchauspielerInnen des Hauses sowie weitere „prominente LeserInnen“, welche „dem Schauspielhaus Bochum nahe stehen“ einen der „großen Texte“ der Weltliteratur vorstellen sollen. Mit seiner äußerst fesselnden Art des mit schauspielerischen Akzenten gespickten Vortrags schlug Dietmar Bär das Publikum in den Kammerspielen in seinen Bann. Beinahe magisch-realistisch kommt der erzählerische Duktus daher, wenn Rothmann die „hellschwarze, leicht schimmernde Aura“ der wertvollen Anthrazit-Kohle beschreibt, deren scharfer Kontrast zur verschneiten Ruhrpott-Siedlung Ende der 60er Jahre das Eingangsbild des Romans prägt. Doch es sind die mit der eigenen Jugend verschmelzenden, ganz persönlichen Erinnerungen, welche dieser Szenerie erst wirklich Leben einhauchen: „Wir schrieben unsere Namen in den Staub, wer doof ist, und wer wen liebt.“
Vor dem Hintergrund des langsamen Sterbens der eigenen Mutter ergreifend retrospektiv geschildert wird die (Flucht-)Geschichte der Eltern des Protagonisten, die sich zunächst von Westpreußen nach Norddeutschland begaben, wo sie zunächst landwirtschaftlich tätig waren, um dann ins Ruhrgebiet weiterzuziehen und Milch- gegen Kohleproduktion eintauschten. Zweimal muss ein (vermeintliches) Idyll untergehen und schließlich für das ‚Schwarze Gold‘ geopfert werden, bevor das Dasein der Kleinfamilie in ruhigere, stetigere Bahnen gerät. Und diesen materiell motivierten ‚Burgfrieden‘ mit dem Leben beginnen darauf ausgerechnet zwei italienische Arbeitsmigranten zu stören, deren klischeehafte Beschreibung erschreckende Parallelen zum gegenwärtigen Bild von Migration aufweist. Doch dann bringt die legendäre mediterrane Küche das Eis zum Schmelzen – bis der Sohn des Hauses schließlich beruflich ‚Italiener‘ werden will...
Bücher, die die Welt verändern | Fr 27.10. 19.30 Uhr: „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde, gelesen durch Günter Alt und Tim-Fabian Hoffmann | Sa 4.11. 19.30 Uhr: „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi mit Friederike Becht u.a.
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