Noch spät am Abend illuminiert die Juni-Sonne das Setting für eine dreifache Lesungspremiere in der Gelsenkirchener Buchhandlung Junius, bei der Licht und Dunkelheit symbolhafte Bedeutung erlangen: „Wir fürchten nicht die Tiefe“ war die Buchpräsentation am 4.6. betitelt, zu der Junius-Chefin Sabine Piechaczek im Rahmen der vom Fritz-Hüser-Institut veranstalteten und von der RAG-Stiftung geförderten Reihe „Texte aus dem Kohlenrevier“ eingeladen hat. Bewusst spricht Kathrin Butt als programmverantwortliche Klartext-Verlagslektorin von einer „Taufe“, als sie gleich drei gerade rechtzeitig zur Veranstaltung erschienene Anthologien präsentiert: Schließlich ist der Abgesang auf die 2018 zu Ende gehenden Bergbau-Ära im Ruhrgebiet beinahe ein sakraler Akt, der zugleich den Beginn einer neuen Zeit in der Region markiert. Gebannt lauscht das Publikum dem charismatischen Vortrag des seit 2000 am Schauspielhaus Bochum engagierten Schauspielers Martin Horn, der von Herausgeber Arnold Maxwill ausgewählte Lyrik und Prosa sowie Auszüge aus reportageartigen Berichten zu Gehör bringt.
Überwiegend kritisch, aber vereinzelt auch heroisierend richten die „Gedichte zwischen Flöz und Förderturm“ aus der Klartext-Anthologie „Grube, Grus, Gedinge“ ein lyrisches Brennglas auf die dunkle Welt unter Tage. „Sprengschüsse dumpf wie Donnerschläge“ etwa hallen in den expressiven Versen von Paul Zeh („Die Hauer“) monumental durch die Bergwerksstollen, während etwa im Werk von Hans Marchwitza der Industrie-Akkord („wir schürfen, wir bohren, wir sprengen“) refrainartig nachgezeichnet wird. Auch die „Prosa aus dem Kohlenrevier“ in der ebenfalls frisch bei Klartext erschienenen Textsammlung „Seilfahrt, Siedlung, Schwielenhand“ legt den Stift in die Wunde der verschwindenden Industriekultur unter Tage, die – etwa in Hans Dieter Baroths Roman „Aber es waren schöne Zeiten“ – vom Spannungsverhältnis zwischen „Angst und Abenteuer“ gekennzeichnet ist. Drastischer bringt Kurt Klüther die existenzielle Bedrohung der Arbeitenden durch kapitalistische Ausbeutung auf den Punkt und prangert in „Der Bergarbeiter“ bissig die von der der Obrigkeit ausgegebene Devise „Staub einschlucken und nicht aufmucken“ an.
Spannende Leseabende mit Fokus auf die Ruhr-Region sowie heimische Autorinnen und Autoren sind fester Bestandteil des Veranstaltungsprogramms der Buchhandlung Junius in der Gelsenkirchener Innenstadt, die am 1. Oktober ihr 80-jähriges Bestehen mit einer besonderen Veranstaltung feiern wird. Die regionale Ausrichtung ist insbesondere Sabine Piechaczek zu verdanken, die bereits seit vier Jahrzehnten zum Team gehört und seit zwei Jahren alleinige Inhaberin des Geschäfts ist. Bis zu 80 Gäste finden im Buchladen in der Sparkassenstraße 4 Platz; größere Veranstaltungen mussten daher bereits ausgelagert werden – so etwa Lesungen mit Bastian Bielendorfer („Lehrerkind“) oder Klaus-Peter Wolf, die in die Aula des Grillo-Gymnasiums verlegt wurden, wo beide Autoren einst zur Schule gingen. Mit dem Schöpfer der inzwischen regelmäßig ganz oben in den Bestsellerlisten landenden Ostfriesen-Krimis verbindet Junius eine ganz besondere Geschichte – so habe K.-P. Wolf dem damaligen Leiter des Hauses sein erstes in Kleinstauflage erschienenes Buch verkauft.
Aber auch eher „stille Autorinnen, die manchmal unterschätzt werden“ zählen unter den Vortragenden zuweilen zu den Highlights: So etwa die persönliche „Lieblingsautorin“ der Junius-Chefin, Inge Meyer-Dietrich; zusammen mit ihrem Verleger Werner Boschmann organisiert Piechaczek inzwischen regelmäßig Lesungen mit AutorInnen, die bei Henselowsky & Boschmann verlegt werden. Hinzu kommen im Frühjahr und Herbst Veranstaltungen aus der Reihe „Lesenswert“, wo das Junius-Team eigens zusammengestellte Neuerscheinungen aus aller Welt vorstellt. Doch auch Kunst ist in der Buchhandlung mit regelmäßig wechselnden Ausstellungen präsent: Am 1. September eröffnet die Gelsenkirchener Künstlerin Barbara Ring ihre Ausstellung „Crazy birds ... in paradise ...“ mit einer Lesung ihrer Kurzprosa und kleinen Kunstbetrachtungen. Gezeigt werden für zwei Wochen Kunstminiaturen, Figurinen und Landschaftsabstraktionen.
Insgesamt habe sich das Geschäft in den letzten Jahren gravierend verändert, konstatiert die heutige Chefin Sabine Piechaczek. Zwar habe sich etwa die Recherche durch neue Medien sehr vereinfacht, doch sei der Buchhandel auch schnelllebiger geworden, indem Verlage statt Halbjahreskatalogen inzwischen überwiegend Quartals- oder sogar Monatsprogramme herausgeben. Viele Werke verschwinden somit wesentlich schneller als früher aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher. Einer „im positiven Sinne konservativen Kundschaft“ sei es jedoch zu verdanken, dass der Markt relativ stabil sei und etwa das E-Book dem gedruckten Buch kaum Marktanteile streitig mache. Sorge bereitet der Junius-Chefin neben wachsenden Anteilen von Online-Großhändlern wie Amazon jedoch, „dass die Deutsche Monopolkommission wieder an der Buchpreisbindung rütteln will“, wie Ende Mai durch die Medien ging. Dies würde zweifellos die Existenz des mittelständischen Buchhandels bedrohen – eine desaströse Entwicklung, die es unbedingt abzuwenden gilt.
Im Netz: www.buchhandlung-junius.de
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