Als die ersten Sänger eintrafen, soll es noch nach Pisse gestunken haben. Sehr wahrscheinlich. Denn das Auge riecht mit. Die Anwohner markieren ihre Haltestelle gern, wenn sie an der Bahnhaltestelle Eichbaum nach einem Kneipenabend in Mülheim oder in Essen aussteigen. Das Ambiente einer heruntergekommenen Groß-Toilette im Grenzland zwischen den Städten, zusätzlich umrauscht von Autobahn und Bundesstraße, lädt dazu ein, der Ort lechzt nach persönlicher Zuwendung – auch wenn es nur ein Guss aus der Blase ist. Für Insider symbolisiert er zudem städteplanerisches Scheitern: Man hatte Großes vor im Vernetzungsplan des Ruhrgebiets. Nichts ist daraus geworden.
Es gibt Menschen, die werden an solchen Orten aus kreativen Gründen unruhig. Aus der Hauptstadt stammt „raumlaborberlin“, ein Künstlerkollektiv, das sich 2009 mit dem Musiktheater im Revier, dem Ringlokschuppen Mülheim und dem Schauspiel Essen kurzschloss, um diese gruselige Betonlandschaft zu behausen. Naheliegende Kunstaktion: Wir bauen eine Oper, wir schreiben eine Oper, wir führen sie in der Eichbaum-Station auf. Nach Monaten der Vorbereitung – eine Bühne, eine Tribüne und ein Operngraben waren zwischen die Gleise der U18 montiert, selbst ein Chor der Anwohner um die Eichbaum-Station war entstanden – traten Sängersolisten, Mitglieder der Neuen Philharmonie Westfalen und des Opernchores sowie ein umfangreiches Team für die technische Realisation zur Premiere an. Rund 200 Zuschauer stiegen in Essen am Hirschlandplatz nahe dem Theater Essen in die U18 ein, Richtung Eichbaumoper. Während der Fahrt schallten merkwürdige Geräusche aus der Sprechanlage, und – wie konnte es schöner sein – in einem Tunnel blieb die Bahn aus technischen Gründen liegen. Das war der Auftakt für eine Flötistin, ihr Instrument zusammenzuschrauben und ein paar flotte Flatterzungen auszustoßen. Schon enttarnte sich eine Mitfahrerin als dramatische Sopranistin, ein Schauspieler stolperte auf der lauthals diskutierten Suche nach einer Geschäftsidee durch die Sitzreihen. „Entgleisung“ (Musik: Ari Benjamin Meyers) nannten die Macher ihre Kammeroper, die aus wechselnden Szenen in verschiedenen Zugabteilen bestand. Am Bahnhof, der dann doch erreicht werden konnte, wartete ein dirigiertes Orchester, nicht von der Heilsarmee, und tutete um die Gäste herum. Eine Prozession zog dann in das Open-Air-Theater, wo die Opernszene „Simon der Erwählte“ (Musik: Isidora Zebeljan) – eine Ödipus im Pott-Variante – und danach „Fünfzehn Minuten Gedränge“ (Musik: Felix Leuschner) uraufgeführt wurden. Menschen erzählen im Vorbeihetzen Geschichten, eine Todessüchtige steht auf der Station über den Gleisen, die Szene nimmt die Fahrt der vorbeirauschenden LKWs und Bahnen auf. Hier lebte plötzlich der Eichbaum auf, der Verkehr besorgte den Rhythmus, das Dunkel verschlang die öde Umgebung: Die Eichbaumoper war geboren. Das Abenteuer Eichbaumoper haben viele Menschen erlebt. Denn alle Passanten mussten beinahe über die Bühne passieren, manche blieben stehen, den meisten war die Szenerie aus dem Alltag vertraut. Seit Monaten schaffte die Kultur an dieser Baustelle. Für die Anrainer ist der Eichbaum ein neuer Ort der Kunst geworden. Hoffentlich. Denn sonst wäre hier viel kreative Energie in den Wirbeln aus Abgas verdampft.
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