„Unter Uns!“ Klingt das nicht wie der Name einer Eckkneipe irgendwo im Rheinland oder in Westfalen? Mit demonstrativer Gemütlichkeit hat das „Generationenprojekt“ aber nichts zu tun, mit dem Silke Z. und ihr Ensemble resistdance nun schon seit Jahren ihr Publikum auf ungewöhnliche Weise unterhalten. Fünf Episoden und einen Bonus-Track weist das Tanz-Projekt auf, das die Befindlichkeit in den jeweiligen Altersetagen unserer Gegenwart auskundschaftet. In diesem Monat ist es erstmals komplett im Tanzhaus in Düsseldorf zu sehen.
Die erste Episode „Felix trifft Felix“ zündete 2009 sogleich eine atemlose Performance. Die Männer über 30 erzählten von ihrem Dilemma, mit dem einen Bein noch in der Welt der Teenager zu stehen und mit dem anderen schon verhakt zu sein in den Gefilden der Zweierbeziehung. Die großen Träume arbeiteten noch so heftig in Felix C. Voigt und Felix Marchand, dass man erleben durfte, wie sich die beiden bis zur völligen Erschöpfung auf den Trip der Selbstfindung begaben.
Mit Jeff und Angus, den Männern über 50, schlägt die Reihe auch stillere Töne an. Wenn die beiden über ihre Verletzungen sprachen, konnte man etwas vom Gewicht spüren, das die Welt als bitteren Erfahrungsschatz im Charakter der Männer hinterlassen hat. Und wann ist der Körper der Männer über 50 schon derart konkret ein Thema auf der Bühne des Tanzes gewesen? Mit dem Humor der genauen Beobachtung von Lebenssituationen warteten die Frauen über 40 auf. „Barbara trifft Bettina“, das war auch ein Blick in die häusliche Welt von Stress und Wichtigtuerei, wie sie von alleinerziehenden Müttern durchlitten und zelebriert wird. Den Teenagern, die sich tapfer mühen, in die noch etwas zu großen Kleider von Mann und Frau hineinzuwachsen, widmeten sich die Episoden 4 und 5 mit „Nathalie trifft Katie“ gefolgt von „Justin trifft Stefan“.
Im Bonus-Track stellt sich dann das Paar Caro und Tonio vor. Caroline Simon und Antonio Cabrita zeigten genussvoll, wie Paare an ihrem Mythos arbeiten und sich darüber eine Identität konstruieren. Aber hier wird auch der Faden verknotet, der sich durch alle Episoden zieht. Gesellschaftliche Rolle und individuelles Selbstverständnis können nur noch mit Mühe auseinandergehalten werden. Anders als im Fernsehen, dessen Serienstruktur das Projekt bewusst zitiert, wird in den Bühnenaktionen durch die Altersklassen deutlich, wie wir vorgefertigten Bildern zu gleichen versuchen, aber der Charme des Authentischen gerade in den kleinen Katastrophen sichtbar wird. Schön, dass eine Choreographin das Wagnis eingeht, uns den Puls zu messen. Es wird viel gelacht in diesem Serial, aber hinter dem Scherz bleibt die Konsistenz des Lebens, seine leise Schicksalsdimension spürbar.
Zum Experiment gehört das Risiko. Die Szenen wurden von den Beteiligten erarbeitet, also nicht auf ihren pointierten dramaturgischen Zündstoff hin zubereitet. Deshalb kommen kleine Abstürze vor, nicht immer findet eine Szene ihr Finale, verhallt mitunter bloß im Ungefähren. Aber entstehen konnte das Generationenprojekt eben auch nur, weil Silke Z. ein vorbehaltloses Interesse an den Menschen antreibt. Ein Wesenszug, der auch in der Welt des Tanzes eher eine seltene Erscheinung darstellt. Die Serie „Unter Uns!“ demonstriert jedoch, wie fruchtbar die Arbeit an der Grenze zwischen Professionalität und authentischem Alltagsgetöse sein kann, wenn man noch ein Ohr für das besitzt, was sich draußen vor dem Theater ereignet. Toll, dass ein Projekt, bei dem so viel künstlerisches Stehvermögen nötig ist und so viel Zutrauen in die Protagonisten investiert wird, in NRW realisiert werden kann. Solche Unternehmungen verleihen einer Szene ihre eigene Klasse.
Das Finale mit allen Episoden ist am 28. und 29. September jeweils um 20 Uhr im Tanzhaus in Düsseldorf zu sehen. Am 30. September zeigt Barnes Crossing in Köln ab 18 Uhr das Finale. Einzelne Episoden werden jeweils donnerstags im Studio 11 in Köln gezeigt.
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