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Christa Reicher
Foto: Michel Kitenge

„Radikale Therapien für die Innenstädte“

25. April 2023

Christa Reicher über die mögliche Zukunft des Ruhrgebiets – Über Tage 05/23

Autos sollen verschwinden, die Produktion zurückkehren: So könnten sich laut Christa Reicher Städte wie Bochum oder Essen entwickeln. Wir sprachen mit der Stadtplanerin über das Karstadt-Aus, neue Konzepte für die Citys und das Potenzial des Ruhrgebiets.

trailer: Frau Reicher, derzeit schließen viele Karstadt-Warenhäuser im Ruhrgebiet. Was könnte dieser drohende Leerstand für die Innenstädte bedeuten?

Christa Reicher: Diese Riesen wie Karstadt waren früher Magneten in den Innenstädten. Jetzt bedeuten sie große Herausforderungen im Sinne der Umnutzung. Ich beteilige mich gerade an einem Konzept für die Essener Innenstadt, für das wir ebenso die Frage stellten: Was bedeutet die Transformation der Innenstadt vor dem Hintergrund, dass der stationäre Handel bzw. dessen Flächennutzung wegbricht? Dazu: In allen Regionen sind die Innenstädte als Patienten zu behandeln. Es braucht daher radikale Therapien. Wir müssen Abschied nehmen von den Innenstädten, wie wir diese bisher kannten: als monofunktional auf den Handel ausgerichtet.


Wie sieht die Zukunft in den Citys wie Essen aus?

Wenn wir lebendige Innenstädte haben wollen, dann müssen wir diese radikaler neu denken; und zwar mit frischen Konzepten: von Kultur, über urbane Produktion bis hin zum Wohnen. Das heißt wiederum: nicht nur Abschied nehmen von der bisherigen Nutzung, sondern auch von den Mietpreisen. Manche Eigentümer lassen lieber ihre Immobilien leer stehen, weil sie derzeit nicht die Mieten bekommen, die sie noch vor ein paar Jahren erzielt haben. Aber das wird in Zukunft nicht mehr der Fall sein. Deshalb halten gerade mehr und mehr Nutzungen mit anderen Mietgefügen Einzug in die Innenstädte. Denn der Leerstand ist keine Option mehr.

Die hiesigen Innenstädte ähneln sich frappierend. Inwiefern ist es sinnvoll, dass alle Orte eine nahezu identische Einkaufsmeile haben?

Die Herausforderung besteht darin, an der Identität der jeweiligen Stadt auch räumlich und gestalterisch zu arbeiten, um wieder spezifischere Innenstädte zu entwickeln. Eine weitere Schlussfolgerung: so wenig Autoverkehr wie möglich und so viel Grün wie möglich umsetzen. Denn auch die Themen Nachhaltigkeit, Klimawandel sowie Aufenthaltsqualität spielen vor dem Hintergrund der zunehmenden Überhitzung in den Sommermonaten eine große Rolle. Zudem sollte man überlegen, wie spezifische Teilquartiere mit jeweiligen Nutzungsschwerpunkten in den Innenstädten entstehen: Wo und wie können etwa die Universitäten und Bildungseinrichtungen präsenter werden? Wo und wie kann wieder Kultur Einzug halten in bestimmten Innenstadtbereichen? Hinzu kommt auch die Frage nach der urbanen Produktion, die wir in vielen Phasen der Stadtentwicklung an die Peripherie verdrängten. Denn die Produktion war immer verbunden mit Lärm, mit großen Flächenanforderungen oder Logistik. Die Produktion der Zukunft ist dagegen viel wohn- sowie innenstadtverträglicher. Deshalb müssen wir der Frage nachgehen, wie die Produktion wieder Einzug in die Innenstädte halten kann, und hierzu Konzepte entwickeln.

Sie haben am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen an einem ein Projekt mitgewirkt, das sich mit sogenannten polyzentrischen Städten als Typus von Megacitys befasste. Was hat diese Kategorie mit dem Ruhrgebiet zu tun?

Diese polyzentrischen Stadtregionen gelten in unserer Disziplin der Stadtplanung als das erfolgreiche und nachhaltige Modell von Raumentwicklung. Denn dort beobachten wir nicht wie in klassischen Metropolen, dass sich bestimmte Funktionen und Dichten konzentrieren. Die Konsequenz davon ist, dass dadurch die Mieten steigen, Boden und Fläche knapp wird. All das sind die negativen Konsequenzen einer urbanen Konzentration. Eine polyzentrische Stadtregion bedeutet dagegen, dass es ein stärkeres Gleichgewicht aus urbaner Dichte und Freiraum gibt. Und eine Zugänglichkeit und Erreichbarkeit von Freiräumen ist ein sehr wichtiges Kriterium im Hinblick auf Lebensqualität. Gerade während der Pandemie haben wir gemerkt, dass die Zugänglichkeit, Gebrauchsqualität und Nutzbarkeit von Freiräumen zentrale Stellschrauben für die Lebensqualität sind. Im Ruhrgebiet haben wir genau das durch eine dezentrale Organisation von urbanen Knoten, also 51 Städten und ihre Einbettung in Landschaftsräume gewährleistet. Was wir aber noch unbedingt verbessern müssen, ist die gestalterische Qualität, die Ästhetik der Region sowie die Erreichbarkeit und Vernetzung durch den ÖPNV.

Inwiefern hat das Ruhrgebiet dadurch das Potenzial, zu einer Boom-Region zu werden?

Auch die Bezahlbarkeit des Wohnraums hängt mit der Polyzentralität zusammen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mieten in den nächsten Jahren weitersteigen werden. Dann wird sich die Nachfrage nach Wohnraum bundesweit neu verteilen. Dann hat das Ruhrgebiet eine große Chance, unter den sogenannten „Hidden Regions“ zu sein, also den noch nicht offensichtlichen Nachfrageregionen.

Benjamin Trilling

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