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Isolde Parussel
Foto: Klaus Hartmann

„Das Ruhrgebiet wird nie eine Einheit werden“

04. April 2023

Isolde Parussel über Hoesch und den Strukturwandel – Über Tage 04/23

trailer: Frau Parussel, neulich stellte der BVB ein schwarzes Kohleindustrie-Trikot vor, das im Fanshop angeboten wurde. Warum wird diese Industrievergangenheit so stark vermarktet?

Isolde Parussel: Ich weiß nicht, ob sie vermarktet wird. Vielleicht ist es eher eine Tradition; etwas, das immer wieder perpetuiert wird. Man muss sich also fragen, ob es Teil der regionalen Identität oder doch bloß Marketingstrategie ist. Solche Selbstbilder haben immer etwas damit zu tun, wie und ob sich die Menschen aus der Region darin wiederfinden. Die Gründungsmitglieder des BVB etwa waren ja zum Teil auch Hoeschianer. Wenn ein Fußballverein sich in einem Stadtteil gründet, wo ein großer Arbeitgeber im Stahlbereich war, dann ist es auch schön, wenn diese Traditionslinie heute noch auftaucht. Es geht also darum, zu zeigen, wo Dinge herkommen und wie sie zusammenhängen.

Die Stahlindustrie bedingte körperliche Schwerstarbeit. Wie wichtig ist daher die Vermittlung der Gesundheitsgeschichte?

Man muss darüber sprechen, dass es schwere Arbeit war, welche die Grundlage war für das, was aus unserer Region geworden ist. Wer dieser Zeit nachweint, darf das natürlich. Trotzdem sollte man sich Folgendes überlegen: Möchte ich wirklich acht Stunden unter Tage vor Kohle oder an der Eisenrinne des Hochofens arbeiten? Ist es das wert, dass ich hier kein Gemüse ernten kann, aber der Arbeitsplatz meiner Kinder sicher ist?

Der Historiker Lutz Raphael schreibt in seinem Buch „Jenseits von Kohle und Stahl“, dass der Strukturwandel im Ruhrgebiet im Vergleich zu etwa Großbritannien deutlich glimpflicher verlief. Inwiefern trifft es auch auf den Hoesch-Konzern zu?

Wir hatten schon immer einen Strukturwandel im Ruhrgebiet. Denn dass Fabriken gebaut wurden und Menschenmassen kamen, ist ja schon in der Frühphase der Industrialisierung ein unglaublicher Einschnitt in der Region. Aber zum jüngsten Strukturwandel: Nach den Werksschließungen verlief es auf jeden Fall glimpflicher als in anderen Ländern. Aber: In welcher Funktion will man auf einen Strukturwandel schauen und sagen, dass dieser gelungen sei? Natürlich sieht es jemand aus dem Bereich Wirtschaftsförderung oder Stadtplanung anders als jemand, dessen Arbeitsplatz wegfällt. Letzterer wird nicht sagen, dass der Strukturwandel gelungen sei. Die Leute können sich nichts davon kaufen, dass es in England schlechter verlief. Zudem verläuft die Entwicklung in unserer Region kleinteilig, es gibt also nicht den gelungenen Strukturwandel in Dortmund oder für Essen. Es klappte noch nie im Ruhrgebiet, alles über einen Kamm zu scheren. Es wird nie eine Einheit werden, muss es auch nicht.

Inmitten dieses beginnenden Strukturwandels sorgten etwa die Hoesch-Frauen mit ihrem Hungerstreik für Aufsehen. Welche Bedeutung haben solche Arbeitskämpfe für die Werksgeschichte?

Diese Arbeitskämpfe sind grundlegend für das Selbstbild eines jeden Hoeschianers – egal, auf welcher Beschäftigungsebene. Insbesondere in der Nachkriegszeit waren diese Arbeitskämpfe jedoch immer darauf ausgerichtet, am Ende zu einem Kompromiss zu finden. Sonst funktionierte es nicht. Es ging und geht also immer darum, es gemeinsam auszuhandeln. Es gab einen grundsozialen Frieden. Arbeitskampf bedeutete daher nicht, mit aller Macht die Belange der Belegschaften durchzusetzen, sondern diese innerhalb des Konzerns sicherzustellen. Bei der Initiative der Hoesch-Frauen ging es etwa um den Bau eines neuen Stahlwerks im Rahmen der Bürgerbewegung „Stahlwerk Jetzt!“. Die Idee: Es müssen Betriebsteile geschlossen werden, um wirtschaftlich zu bleiben; dafür gibt es wiederum ein hochmodernes Stahlwerk, das Qualitätsarbeitsplätze, Ausbildung und Zukunft sichert. Als es schließlich doch nicht dazu kam, gab es einen Aufschrei.

Inwiefern kann diese Herangehensweise bei Arbeitskämpfen noch heute sinnvoll sein, etwa im Amazon-Werk, das sich nicht unweit vom Hoesch-Gelände befindet?

Es ist heutzutage sehr schwierig, im Ruhrgebiet und darüber hinaus von einer Grundsolidarität auszugehen. Die Lebensverhältnisse sind für viele sehr schwierig. Heute ertragen es z.B. manche Eltern nicht, wenn in der Kita gestreikt wird, weil das dann für den eigenen Arbeitsplatz zu Schwierigkeiten führt. Wenn so eine Solidarität schon mit den Erzieherinnen und Erziehern nicht gegeben ist, wie soll man dann zum Arbeitskampf auffordern? Vielleicht ist genau das etwas, was wir aus der Hoesch-Geschichte lernen können: solidarisch sein mit dem Umfeld.

Interview: Benjamin Trilling

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