trailer: Für ihre Residenz arbeiten Sie an einem Journal, das ganz unterschiedliche Texte enthalten soll. Welche Eindrücke der Region haben Sie bisher gesammelt?
Ingo Schulze: Ich habe erst mal versucht, mich hier zu orientieren, im Kleinen wie im Großen. Bisher habe ich ganz unterschiedliche Leute getroffen, über manche Begegnung werde ich schreiben, ein Porträt oder ähnliches. Wenn man aus Berlin hierherkommt, ist man ja nicht in einer völlig anderen Welt, die Ähnlichkeiten oder Unterschiede liegen auch hier eher zwischen den Klassen oder sozialen Schichten als in den Unterschieden der Orte.
Wen haben Sie für die Porträts getroffen?
Beispielweise hat sich ein älterer Herr, Jahrgang 1939, nach einer Lesung bei mir gemeldet. Er lud mich zu sich nach Gelsenkirchen ein, er war gut vorbereitet. Er hat mir zwei Stunden aus seinem Leben erzählt, unter anderem von seiner eigenen Firma, die ihm immer noch gehört. Er ist stolz, aus Gelsenkirchen zu kommen, und leidet zugleich, weil er auch sieht, was kaputt gegangen ist.
Den Begriff der „Metropole Ruhr“ gibt es erst seit dem Kulturhauptstadtjahr 2010. Nehmen Sie diese Region als so einheitlich wahr wie es dieses Label suggeriert?
Ich erlebe das Ruhrgebiet als eine eng verwobene und vitale Region. Ohne Auto bin ich hier auf die Schienen angewiesen. Und mit dem Zug werden die Katzensprünge deutlich, etwa von Mülheim nach Essen oder Duisburg. Man ist auch mit dem Fahrrad schnell in einer anderen Stadt. Es ist aber nicht eine große Stadt, sondern besonders durch die Vielzahl der Zentren. Es wäre allerdings eine Verkürzung, das aufs Ruhrgebiet zu beschränken.
Einer ihrer Vorgänger, Wolfram Eilenberger, kritisierte eine nostalgische Hinwendung zum Bergbau oder der Fußballvergangenheit. Was ist ihre Meinung dazu?
Wer aus dem Osten kommt, hat die Erfahrung von einem Bruch erlebt. Weil es einem auf dem neuen Terrain an Erfahrungen fehlt, ist man erstmal verunsichert und sucht Orientierung. Hier ist mir diese Idealisierung der Vergangenheit eher medial begegnet. Es gibt aber einen Stolz auf das, was da gewesen ist und einen Schmerz darüber, dass etwas zusammenbrach, das vorher das Leben bestimmte. Allerdings erscheint mir mit meiner östlichen Erfahrung das Ruhrgebiet als wirtschaftlich sehr stark, auch wenn es hier Brachen gibt. Aber eine deindustrialisierte Landschaft ist das nicht, ganz im Gegenteil.
Welche Rolle spielt ihre ostdeutsche Herkunft bei der literarischen Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet?
Es ist nolens volens immer so ein Vergleich, wie der Kohlebergbau hier und wie dieser im Osten beendet wurde. Wenn man rückblickend auf die Kultivierung der Bergbaulandschaften schaut, merkt man, dass die DDR in dieser Hinsicht während der 1950er- und 60er Jahre vorne dabei war. Im Ruhrgebiet entwickelte sich das dagegen erst in den 1970er-Jahren, als dem Osten die Mittel dazu zu fehlen begannen. Das ist zwar ein Buchwissen, aber man sieht damit anders in die Landschaft.
Inwiefern gibt es Parallelen zwischen dem hiesigen Strukturwandel und den Änderungen, die mit derWiedervereinigung einhergingen?
In Ostdeutschland gab es eine Deindustrialisierung von 70 Prozent. Es brauchte 17 Jahre, bis der Osten wieder auf das Niveau kam, das es 1989 gab. Auch die großen Betriebe wurden lahmgelegt. Hinzu kam in dieser Zeit eine schockartige Arbeitslosigkeit. Gerade in kleineren Städten war für viele Werktätige von heute auf morgen Schluss. Daran gemessen, verlief der Strukturwandel im Ruhrgebiet sanft. Trotzdem weiß ich, was ein solcher Bruch für Erschütterungen nach sich zieht – auch für das Selbstbild einer Region.
In ihrem aktuellen Essayband „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte“ formulieren Sie auch eine Kapitalismuskritik. Das Ruhrgebiet gilt laut Forscher:innen als „armutspolitische Problemregion Nr.1“. Welche Rolle spielt das für ihr literarisches Projekt als Metropolschreiber?
Mir fällt auf, dass hier die Gegensätze näher beieinanderliegen. Soweit ich das beurteilen kann, gibt es große Stadtgebiete, in denen man sich offenbar kaum ernsthafte finanzielle Sorgen machen muss, es sei denn, man hat sich verspekuliert. Und dann gibt es Gebiete, denen ist anzusehen, dass sie genau wissen, wo sie einkaufen können und wo nicht und die womöglich nicht das Geld haben, für ihre Kinder ein warmes Mittagessen zu bezahlen. Dieser Widerspruch ist hier viel fassbarer als anderswo, wo es ihn auch gibt. Warum wir das als Gesellschaft hinnehmen, ist eigentlich nicht zu erklären.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Moralische Abgründe
Gaea Schoeters liest bei Proust in Essen
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24
„Ruhrgebietsstory, die nicht von Zechen handelt“
Lisa Roy über ihren Debütroman und das soziale Gefälle in der Region – Über Tage 04/24
„Was im Ruhrgebiet passiert, steht im globalen Zusammenhang“
Die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken über den Strukturwandel – Über Tage 03/24
„Einer muss ja in Oberhausen das Licht ausmachen“
Fußballfunktionär Hajo Sommers über Missstände im Ruhrgebiet – Über Tage 02/24
„Mir sind die Schattenseiten deutlicher aufgefallen“
Nora Bossongüber ihre Tätigkeit als Metropolenschreiberin Ruhr – Über Tage 01/24
„Hip-Hop hat im Ruhrgebiet eine höhere Erreichbarkeit als Theater“
Zekai Fenerci von Pottporus über Urbane Kultur in der Region – Über Tage 12/23
„Das Ruhrgebiet erscheint mir wie ein Brennglas der deutschen Verhältnisse“
Regisseur Benjamin Reding über das Ruhrgebiet als Drehort – Über Tage 11/23
„Kaum jemand kann vom Schreiben leben“
Iuditha Balint vom Fritz-Hüser-Institut über die Literatur der Arbeitswelt – Über Tage 10/23
„Es hat mich umgehauen, so etwas Exotisches im Ruhrgebiet zu sehen“
Fotograf Henning Christoph über Erfahrungen, die seine Arbeit geprägt haben – Über Tage 09/23
„Man könnte es Stadtpsychologie nennen“
Alexander Estis ist für sechs Monate Stadtschreiber von Dortmund – Über Tage 08/23
„Für Start-ups sind die Chancen in Essen größer als in Berlin“
Unternehmer Reinhard Wiesemann über wirtschaftliche Chancen im Ruhrgebiet – Über Tage 06/23
„Radikale Therapien für die Innenstädte“
Christa Reicher über die mögliche Zukunft des Ruhrgebiets – Über Tage 05/23
„Das Ruhrgebiet wird nie eine Einheit werden“
Isolde Parussel über Hoesch und den Strukturwandel – Über Tage 04/23
„Im Fußball fanden die Menschen den Halt“
Ben Redelings über die Bedeutung des Ballsports im Ruhrgebiet – Über Tage 01/23